Die russische Herzogin
schmiedeeisernen Straßenlaternen anzuzünden.
Margitta, die das kalte, klebrige Fleisch hastig verschlungen hatte, leckte sich einen letzten Soßenrest von den Fingern.
»Wen hasst du eigentlich nicht? Sei doch froh, dass sich überhaupt jemand um dich kümmert.«
»Kümmern nennst du das? Wenn ich nicht augenblicklich tue, was sie von mir verlangt, lässt sie mich auf Kerzen knien. Da, schau!« Noch während sie sprach, riss Wera ihren Rock hoch und zeigte die wulstartigen Blutergüsse unter ihren Knien.
Margitta pfiff leise durch die Zähne. »Wenn Vater die Knute herausholt, sehen wir danach auch so blaurot verfärbt aus.«
»Du wirst geschlagen?«, fragte Wera schockiert.
»Was denkst du denn, fast jeden Tag und meist wegen nichts«, antwortete Margitta grimmig. Noch während sie sprach, rollte sie den Ärmel ihres groben Kittels nach oben. Drei rote Striemen wurden sichtbar.
»Das war sein Gürtel. Wenn sie ihn im Wirtshaus nicht mehr anschreiben lassen, macht ihn das immer fuchsteufelswild. Wehe, man läuft ihm dann über den Weg.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn’s geht, verschwinde ich immer vorher, so dass ich ihn erst gar nicht zu Gesicht bekomme. Gestern war ich nicht schnell genug …«
»Und deine Mutter?« Beschämt zog Wera ihren Rock wieder über ihre lädierten Knie. Vergessen war Madame Trupow, vergessen auch die dummen Kerzen. Das hier war etwas ganz anderes!
Margitta schnaubte abfällig. »Mutter ist froh, wenn sie selbst nichtsabbekommt und wenigstens einen Teil ihres Lohns vor ihm retten kann. Diese Woche ist ihr das leider nicht gelungen. Kein Geld, kein Essen, aber Hauptsache, der Alte hat was zu saufen!«
Die Bitterkeit in Margittas Stimme tat Wera weh. Eilig hielt sie ihrer neuen Freundin die Handvoll Kekse hin, die sie am Nachmittag von der Teetafel in Ollys Salon stibitzt hatte. Es war höchst schwierig gewesen, den Argusaugen von Madame Trupow für einen Moment zu entkommen.
Margitta schaute die Kekse sehnsüchtig an, dann schob sie sie in ihre Tasche.
»Für meine Geschwister. Vielleicht plärren sie dann nicht ganz so laut, und ich kann in Ruhe schlafen.«
Zu gern hätte Wera einmal mit ihrer Tante über Margitta gesprochen. Oder auch mit Evelyn. Eine von beiden hätte schon gewusst, wie man der Wäscherin und ihren Kindern helfen konnte. Aber wann immer sie auch nur eine Andeutung in diese Richtung machte, wehrte Margitta vehement ab.
»Wenn deine Leute erfahren, dass du dich mit einer wie mir abgibst, hätte das böse Folgen. Dich würden sie fortan gar nicht mehr aus den Augen lassen. Und ich käme vielleicht ins Heim oder sonst wohin – vielen Dank!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir selbst helfen, dafür brauche ich dich Russengöre gewiss nicht.«
Wera bewunderte ihre Freundin für so viel Mut und Eigensinn. Ihre frechen Reden nahm sie ihr auch nicht übel, ganz im Gegenteil, es gefiel ihr, dass jemand so sprach, wie sie es gern getan hätte.
Sie nahm Margittas Hand und seufzte inbrünstig.
»Dein Vater schlägt dich und meiner will nichts von mir wissen. Warum können einen die Erwachsenen nicht richtig liebhaben?«
»Liebhaben – ich weiß gar nicht, wie das geht«, erwiderte Margitta, während sie einen der Kekse wieder aus ihrer Tasche holte und aß. Dann nahm sie das Märchenbuch, das Wera ihr geschenkt hatte, und begann hastig darin zu blättern.
Was für ein seltsames Mädchen, dachte Wera bei sich. Nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, Margitta in einer Welt versinken zu sehen, zu der sie keinen Zugang hatte. Lange wartete sie darauf, dassdie Freundin von dem Buch aufschaute, doch diesen Gefallen tat Margitta ihr nicht.
Auf der Straße war es dem Nachtwächter endlich gelungen, die Lampe zu entzünden. Er versetzte dem Eisenpfosten einen Tritt, dann lief er weiter. Lächelnd verfolgte Wera ihn noch ein Stück mit den Augen, während ihre Gedanken zwei Stockwerke tiefer zu Tante Olly flogen. Bestimmt saß sie gerade an ihrem Toilettentisch und cremte sich mit duftenden Essenzen ein oder kämmte ihre ellenlangen, glänzenden Haare. Wie es sich wohl anfühlte, so schön zu sein?
Eins musste Wera zugeben: Nicht alle Erwachsenen waren gemein und böse. Tante Olly war sogar ziemlich lieb. So kam sie beispielsweise jeden Abend zu ihr ans Bett, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Am heutigen Abend hatte sie von ihrer eigenen, heißgeliebten Gouvernante Anna Alexejewa Okulow erzählt. Sie vermisse Anna, die vor ein paar Jahren
Weitere Kostenlose Bücher