Die russische Herzogin
schwebte für die Nichte des Zaren eine wesentlich umfangreichere Geistesbildung vor. Womit, wenn nicht mit einer einigermaßen guten Bildung, sollte das Mädchen später einmal auf dem gesellschaftlichen Parkett glänzen? Wo der liebe Gott bei ihrer Erschaffungnicht die kleinsten Körnchen an Schönheit und Anmut gestreut hatte …
Helene seufzte. Eins war ihr in der kurzen Zeit schon klargeworden: Hier fehlte es einfach an allem. An Attraktivität und Bildung, an Anstand und Benimm – sogar der hygienische Zustand des Mädchens war mangelhaft! Die Kleine roch. Helene fragte sich, wann dem Mädchen das letzte Mal ein Bad bereitet worden war.
Fast hätte man bei Wera Konstantinowa von einem hoffnungslosen Fall sprechen können. Kein Wunder, dass ihre Vorgängerinnen die Flinte ins Korn geworfen hatten. Sie, die Rangen-Gouvernante, sah in dem Mädchen hingegen die größte Herausforderung ihres Lebens. Angesichts dessen würden vielleicht sogar ihre Pläne, sich einen passenden Ehemann zu suchen, ein wenig hintanstehen müssen. Obwohl die Chancen hierfür gut standen, das hatte sie am Vortag schon herausgefunden: Damen waren in der russischen Stuttgarter Gemeinde in der Minderheit, jedes weibliche russische Wesen wurde freudig willkommen geheißen. Doch Helene Trupow wusste, wann es galt, Prioritäten zu setzen
*
Mit skeptischer Miene lauschte Olly den Beteuerungen ihrer Hofdame, dass Karl und sein Adjutant lediglich zur Villa Berg spaziert waren. Wahrscheinlich wollten sie dort nach dem Rechten sehen, fügte Evelyn an.
»Aber dafür haben wir doch Personal! Die Gärtner kontrollieren die Parkanlagen. Und der Obersthofmeister schaut auch regelmäßig nach unserem Sommerdomizil, damit es in der kalten Jahreszeit keinen Schaden erleidet.« Olly war alles andere als überzeugt. »Und es waren wirklich keine Damen in der Nähe? Vielleicht wartete eine schon im Haus?«
Evelyn verneinte. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Wilhelm von Spitzemberg die Villa aufschloss, also konnte niemand zuvor ins Haus gelangt sein. Keine Damen und auch keine spiritistischeSitzung, falls Olly das vermutete. Vielleicht hatte Karl einfach Sehnsucht nach der Villa?, schloss sie ihre Ausführungen. Jeder wusste doch, wie sehr der Prinz an dem Haus hing.
Mit dieser Erklärung hatte sich Olly schließlich zufriedengegeben. Auch sie wünschte sich sehnsüchtig den Tag herbei, an dem sie wieder ihr Sommerdomizil beziehen würden.
Nachdem sie ihre Nichte den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen hatte, wollte sie Wera wenigstens beim Abendessen um sich haben. Also gab sie Madame Trupow den Abend frei und ließ Wera in den Speisesaal holen – eine Entscheidung, die sie nach wenigen Minuten bereute. Wera schwatzte ohne Unterlass, erzählte ihrer Puppe verworrene Geschichten, sang laute Lieder und hüpfte unentwegt herum. Zwischendurch umklammerte sie immer wieder ihre Knie. Einmal stieß sie dabei einen der Wasserkrüge um. Karls Adjutant, der wie Evelyn von Massenbach mit der Familie speiste, reagierte sehr ungehalten, als sich der kalte nasse Inhalt über seinen Schoß ergoss. Im nächsten Moment rutschte Weras Puppe zu Boden, wo Ollys Hund sie spielerisch am Schopf packte. Wera trat erst den Hund und brach dann in lautes Heulen aus.
Evelyn legte enerviert ihr Besteck weg.
»Wenn das die Auswirkungen von Madame Trupows Erziehungsmaßnahmen sind, stehen uns großartige Zeiten bevor!«
Hilflos versuchte Olly, ihr jaulendes Windspiel und das Kind zu beruhigen. Evelyn warf sie dabei einen unfreundlichen Blick zu, den diese jedoch ignorierte. Als Karl die Tafel aufhob, atmeten alle erleichtert auf. Mit Bedauern trug das Serviermädchen die Teller zurück in die Küche, da der Großteil der zarten Kalbsschnitzel in Weißweinsoße darauf liegengeblieben war.
Die Küchenhilfen waren zu beschäftigt, um Wera zu bemerken, die wie ein Gespenst zum Serviertresen huschte und sich zwei Fleischstücke in die Rocktasche stopfte.
*
»MadameTrupow ist eine alte Hexe. Ich hasse sie«, verkündete Wera voller Inbrunst.
Es war nach zehn Uhr abends, und in den Gängen des Kronprinzenpalais brannten nur noch wenige Lampen, in den herrschaftlichen Zimmern bereiteten sich die Bewohner auf ihre Nachtruhe vor. Auch Wera hätte längst in ihrem Bett liegen sollen, stattdessen saß sie, wie so oft, mit Margitta auf dem Dachboden in ihrer Fensternische. Auf der Straße vor dem Fenster war ein Nachtwächter zu sehen, der Mühe hatte, eine der
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