Die russische Herzogin
formulierte. Kaum hatte sie den Brief adressiert, sagte sie:
»Esgibt noch etwas, das wir besprechen sollten. Morgen hat Madame Trupow doch ihren freien Nachmittag …«
Olly runzelte die Stirn. »Stimmt. Und ausgerechnet morgen um vierzehn Uhr steht die Einweihung des neuen Museumsflügels an. Karl wird nicht begeistert sein, wenn ich Wera mitbringe.« Evelyn konnte Karls Ressentiments nur allzu gut nachempfinden. Auch sie verspürte keine große Lust auf Weras Gesellschaft. Andererseits war es dringend nötig, Olly ein wenig zu entlasten. Also gab sie sich einen Ruck und sagte:
»Wenn Sie es erlauben, würde ich mich morgen um Wera kümmern.«
*
Als sich Olly das seidene Cape umlegte, welches sie für den Nachmittag gewählt hatte, erklang direkt vor ihrem Fenster der Gesang des Frühlingsvogels. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich in ihre Kindheit versetzt, genauer gesagt ins Landhaus von Peterhof. Hatte dort, im uralten Apfelbaum vor dem Esszimmer, nicht derselbe Vogel seinen Hochgesang auf das Ende des Winters angestimmt? Der Frühling … Aufbruch und Neuanfang zugleich.
Lächelnd nahm Olly die Gästeliste zur Hand, die anlässlich der Einweihung des neuen Museumsflügels erstellt worden war. Es konnte nicht schaden, vorab zu wissen, wer kommen würde. Zu ihrer Freude entdeckte sie den Namen Eduard Mörike. Der Dichter, der am Königin-Katharina-Stift Literatur unterrichtete, und seine Gattin waren also auch geladen. Erzählte nicht auch eines seiner berühmtesten Gedichte vom Frühling? Bestimmt würde sich die Gelegenheit ergeben, das Paar zu bitten, einmal seine beiden Töchter Fanny und Marie zu Besuch zu schicken. Dass Wera in Stuttgart noch immer keine Freundin gefunden hatte, betrübte Olly sehr, war es doch ein weiteres Zeichen dafür, wie wenig heimisch sich das Kind hier fühlte. Sie machte sich auf den Weg zu Weras Studierzimmer, um sich von ihrem Patenkind zu verabschieden und ihm viel Spaß beim späteren Ausflug mit Evelyn zu wünschen. Vielleicht wurde der Nachmittag doch nicht so langweilig wiebefürchtet. Und vielleicht konnte sie Karl dazu überreden, nach dem offiziellen Teil zur Abwechslung einmal mit ihr spazieren zu gehen. Oder eines der vielen hübschen Cafés Stuttgarts zu besuchen, so wie sie dies in früheren Jahren gern getan hatten. Es war ein so schöner Tag …
»Wera, Madame Trupow –« Olly hatte die Klinke noch in der Hand, als ihr Lächeln erstarb. Irritiert schaute sie von der russischen Gouvernante zu ihrem Patenkind, das mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken auf dem Boden kniete.
»Was … soll … das?«, fragte sie mit blecherner Stimme, während ein eisiger Schauer über ihren Rücken kroch.
»Eine kleine Erziehungsmaßnahme, das muss Eure Hoheit verstehen …«, sagte Madame Trupow und zog Wera eilig an einer Hand nach oben. »Und für heute reicht es.«
»Für heute?« Olly glaubte nicht richtig zu hören. »Sie lassen mein Patenkind wie eine gemeine Sünderin auf dem Boden knien? Und damit es richtig weh tut, kommen die Kerzen zum Einsatz?« In einer beschützenden Geste legte sie ihre Arme um Wera. »Ist alles in Ordnung, mein Kind? Warum hast du mir nie erzählt, was hier vor sich geht?« Fragend schaute sie Wera an, bekam jedoch keine Antwort. Hatte die Gouvernante das Kind schon dermaßen eingeschüchtert?
Bebend vor Wut funkelte sie die Gouvernante an, die schutzsuchend hinter den Tisch geflohen war.
»Ist Ihnen eigentlich das Ausmaß Ihres Verhaltens bewusst? Eine Romanow kniet nicht, niemals, unter keinen Umständen! Ich habe größte Lust, Sie für dieses Verhalten auf der Stelle hinauszuwerfen!«
»Aber … Eure Hoheit, ich –«
Mit einer barschen Handbewegung brachte Olly die Gouvernante zum Schweigen.
»Ich will nichts hören. Gehen Sie mir aus den Augen, und zwar sofort! Morgen früh lasse ich Sie wissen, wie ich mit Ihnen zu verfahren gedenke.«
*
»Duhättest hören sollen, wie Olly die Trupow angeschrien hat! Kreidebleich ist die geworden.« Wera kicherte. Ihr Gesicht wies hektische rote Flecken auf, ihre Stimme war noch schriller als sonst. »Ich habe gar nicht gewusst, dass meine Tante so laut werden kann. Die Trupow hat mir fast schon leidgetan. Und das alles nur, weil ich nicht still sitzen kann. Kannst du mir bitte erklären, warum ein Mensch, der still dasitzt, mehr wert sein soll als einer, der sich gern bewegt?«
Evelyn seufzte. Seit sie die Kutsche bestiegen hatten, die sie zum Rosensteinpark bringen sollte,
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