Die Saat der Bestie (German Edition)
diese imaginäre Person Frank, so wie sein zweiter Vorname lautet. Frank ist ein bisschen wie Harvey, der Hase, den er als Kind einmal in einem Film gesehen hat. Nur dass ihm Frank mit jedem Wort, das er ihm anvertraut, realer erscheint. Manchmal hat David sogar das Gefühl, dass er nur die Hand ausustrecken bräuchte, um Frank ertasten zu können. Die Vorstellung, dass sich Frank in eine reale Person verwandeln könnte, zeugt davon, dass David in dieser stillen und einsamen Welt beginnt, den Verstand zu verlieren. Doch warum soll er sich Gedanken um etwas machen, das funktioniert? Und wen würde es stören, wenn er wirklich verrückt werden würde?
Frank hilft ihm dabei, sein Leben so zu akzeptieren, wie es nun einmal ist. Er fühlt sich besser, wenn er mit Frank redet. Und in einer entvölkerten Welt klammert sich der Mensch sogar an eingebildete Partner, nur um nicht vollkommen dem Wahnsinn zu erliegen.
Früher, in seinem alten Leben, unterhielt man sich über das Wetter oder die Korruption in der Politik. Männer redeten über Sport und Frauen. Frauen über sich selbst und ihre Männer.
David redet über alles. Über die Stadt, den Fluss, Darleen, seine Wohnung, die stillen Nächte und Neil Young. Wenn er irgendetwas tut, erzählt er sich selbst, was er gerade tut, als würde er einem kleinen Kind die Geheimnisse des Lebens erklären. Nur, dass das Leben keine Geheimnisse mehr hat.
Manchmal erzählt er auch Frank davon. Und manchmal, aber nur manchmal, antwortet ihm Frank sogar. Frank hat das Leben verstanden. Das nackte, brutale und sterbende Leben. Und durch ihn versteht David es auch.
»Verdammt still heute, was«, sagt er zu sich und betrachtet die grauen Wolkenberge, die sich im Westen auftürmen. Diesmal antwortet Frank ihm nicht. »Es wird regnen heute Nacht. Zeit, sich um das Abendessen zu kümmern.« Er legt sich das Gewehr wieder wie ein Joch über die Schulter.
Während er mit seinem Blick die Wolken abschätzt, geht er schwerfällig mitten auf der Straße zu seinem Haus. Er versucht, auf dem verblassten Mittelstreifen zu balancieren. Doch immer wieder muss er Gräsern und Unkraut ausweichen, die den Asphalt aufgebrochen haben.
Als er an einem Bekleidungsgeschäft vorbeikommt, bleibt er vor dem großen, verstaubten Schaufenster stehen und sieht Lilly tief in die Augen. Das tut er jeden Tag. Am Morgen begrüßt er sie, am Abend wünscht er ihr eine Gute Nacht.
Hat Will Smith in diesem apokalyptischen Film nicht dasselbe getan? David weiß es nicht mehr. Obwohl er sich den Film so oft mit Darleen zusammen angesehen hat, kann er sich nicht mehr daran erinnern. Die Bilder verblassen ebenso wie alles andere aus der alten Zeit, genau wie Darleen.
Manchmal, wenn die Flut aus Kummer und Resignation in David ihren Höchststand erreicht hat, erzählt er Lilly von der Ungerechtigkeit der Welt und seiner unbändigen Angst vor allem, was ihn noch erwartet. Lilly ist eine gute Zuhörerin. Ohne ihn zu unterbrechen oder sich gelangweilt abzuwenden, sieht sie ihn an und hängt förmlich an seinen Lippen. Sie blinzelt nicht einmal mit den Augen.
David ist irgendwann einmal in den Laden gegangen und hat ihr den Mund rot angemalt. Es erinnert ihn an bessere Tage, als Frauen sich schminkten und schicke Kleider trugen, und ein klein wenig auch an Darleen, die sich gerne hübsch machte, wenn er sie zum Essen ausführte. Mittlerweile ist die Farbe auf Lillys Lippen brüchig geworden und eher schwarz als rot. Doch Lilly ist für ihn immer noch eine verdammt schöne Frau.
Heute ist er zu müde, um mit ihr über seine Ängste zu reden. Und da sie ihm nie etwas über sich erzählt und auch ansonsten recht wortkarg ist, haucht er ihr einen Handkuss zu, lächelt sie verschmitzt an und zieht weiter.
Früher, in seinem alten Leben, hätte er sich so etwas einer Frau gegenüber nie getraut. Doch Lilly ist anders als die Frauen aus der alten Zeit. Und vielleicht hat auch David sich ein klein wenig verändert.
Sein Haus befindet sich am Ende der Straße, direkt neben der Mauer zum Park. Als er auf der Veranda steht, blickt er sich noch einmal um. Die Wolken sind dunkler geworden und scheinen direkt über den Schornsteinen der Häuser zu hängen. Ein kalter Wind ist aufgekommen, lässt Papier über den Asphalt tanzen und die vertrockneten Rosenbüsche rascheln. Die Straße erscheint ihm so nutzlos. Die Häuser, die verwilderten Gärten, selbst die Bäume – alles hat seinen Sinn verloren.
Gegenüber steht ein alter Lincoln
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