Die Saat der Finsternis (German Edition)
Schweigen. Lys spürte ihre Blicke. Ihre Angst. Ihr Misstrauen.
Warum nur habe ich jemals versucht, nach der Krone zu greifen? Der Preis ist zu hoch, ich hätte das wissen müssen! Ich reiße sie alle mit in den Untergang, es wird ihr Blut sein, das an meinen Händen klebt!
Ein Schatten fiel über ihn. Müde sah Lys hoch und fand Elyne vor sich, die ihn spöttisch betrachtete. Ja, verachte mich für all das, was ich bin! Und für all das, was ich eben nicht bin …
„Ihr wisst mich doch immer zu überraschen, teuerster Gemahl“, sagte sie. Ihre kalte, höhnische Stimme schnitt tief in seine Seele. Konnte sie ihn denn nicht in Ruhe lassen?
„Wo ist er jetzt, der Spieler, der dem gesamten Adel vorgaukeln konnte, wir beide wären in innigster Liebe miteinander verbunden? Wo ist er, der tollkühne Held, der sein entführtes Eheweib mit leeren Händen aus einer Festung befreit hat? Wo ist der listenreiche Intrigant, der in jeder ausweglosen Lage einen irrwitzigen Fluchtweg findet?“ Sie zögerte kurz, bevor sie nachsetzte: „Wo ist der Mann, den ich bewundere?“
Verwirrt erhob er sich, suchte in ihrem Blick nach der Bedeutung für ihre Worte. Albor regte sich und rief: „Wo ist er, der dem Mob ein Opfer entrissen hat und dafür als Befreier gefeiert wurde? Der einen Sterbenden umsorgte und alle glauben ließ, das wäre nichts als Grausamkeit?“
„Der Mann, der einen Akt der Gnade als Strafe erscheinen lassen konnte? Der lieber die Wand als den Rücken eines Unschuldigen auspeitscht? Der lieber auf alles verzichten wollte, als bloß einen einzigen Soldaten oder Diener zu verlieren, und Fluchtpläne entwarf, die ihm das garantierten?“, fiel Tomar ein.
Kirian trat an Elynes Seite. Die Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern war in diesem Moment so deutlich wie noch nie zuvor, doch wenigstens war es kein Spott oder Verachtung, was Lys seinem Gesicht fand, sondern Wärme und unerschütterliches Vertrauen.
„Wo ist er, der Mann, der bereit war, für das zu sterben, was er liebt?“, fragte Kirian. „Nicht nur ein einziges Mal, sondern wieder und wieder? Wo ist er, der mit einem Kind im Arm und einem Lebensmüden über der Schulter mit purer Willenskraft einen Schneesturm bezwungen hat?“
Er griff nach Lys’ Hand und fuhr fort: „Wo ist er, der sich von mir foltern ließ und trotzdem niemals aufgab? Der verzeihen konnte, was unverzeihlich ist? Der an mich glaubte, als ich jeden Glauben verlor?“ Lys erzitterte unter Kirians Blick, in dem eine ganze Welt von Gefühlen lag. Er entzog sich ihm, wandte ihnen allen den Rücken zu und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Noch niemals zuvor hatte er soviel Dunkelheit in sich gespürt. Was erwarteten sie von ihm? Ein neues Wunder? Einen wahnwitzigen Plan, der sich jeder Logik widersetzte und trotzdem funktionierte?
Glaubt ihr, ich mache das mit Absicht?
„Dieser Mann, von dem ihr da redet, hat jämmerlich darin versagt, sein eigenes Haus zu beschützen. Die Menschen, die dabei gefallen sind, während er selbst nicht für sie da war, um an ihrer Seite zu stehen, sehen ihn gewiss nicht als Helden!“, brach es aus ihm hervor. „Dieser Mann hat ein ganzes Lager voll Sklaven zurückgelassen, wissend, dass seine Flucht diese Menschen in noch tieferes Elend stößt. Dieser Mann hat seinen eigenen Bruder umgebracht, statt ihn zu überzeugen, das Spiel aufzugeben. Dieser Mann hat verdammt viel Glück gehabt mit seinen Lügen und Plänen. Aber Glück ist vergänglich!“
Er fuhr herum und starrte sie alle an.
„Ich bin kein Führer! Das bin ich nie gewesen! Ich bin der Mann, der sich immer hinter dem Rücken seines Bruders verstecken wollte. Und jetzt, wo Roban fort ist, eben hinter deinem Rücken, Kirian. Ich kann euch nicht anführen, versteht ihr nicht? Schenkt mir nicht euer Vertrauen, ich verdiene es nicht. Ich bin weder ein Kriegsherr noch ein König. Wenn ihr mir folgt, findet ihr nur den Tod.“
Hastig wandte er sich wieder um, als er seine Stimme brechen hörte. Tränen liefen ihm über die Wangen, doch er wagte nicht, sie wegzuwischen, denn schon diese Bewegung hätte seine Schwäche verraten. Hektisch atmend krallte er die Hände in die Rinde des Baumes und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Lys zuckte zusammen, und schrie innerlich, als er das Aufschluchzen nicht mehr unterdrücken konnte. Er krümmte sich, zerbiss sich fast die Lippen, presste die
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