Die Saat der Finsternis (German Edition)
regen. Selbst im Schlaf sah er so verkrampft und elend aus, dass es Kirian das Herz abdrückte.
Trotzdem zweifle ich nicht mehr. Wo ist meine eigene Finsternis hin? Seit sie in ihrem Waldunterschlupf erwacht waren, hatte er nichts mehr von der Saat des Zweifels gespürt. Müsste er nicht gerade jetzt darin versinken, wo es wenig Grund zur Hoffnung gab? Hatte er wirklich den Drachen besiegt?
Bevor Kirian sich weitere Gedanken machen konnte, klopfte es plötzlich hektisch an der Tür, und Ramin stürzte herein, ohne auf Antwort zu warten.
„Sheruk, du musst kommen, schnell! Onkar ist weg!“
Fluchend sprang Kirian aus dem Bett, schlüpfte rasch in Hemd, Hose und Stiefel und griff nach seinen Waffen. Lys tat dasselbe, trotz aller Schlaftrunkenheit. Nacheinander rannten sie aus der Hütte. Es drehte Kirian regelrecht den Magen um, als er sah, wie sich alle Gesichter hoffnungsvoll erhellten, sobald sie ihn und Lys erblickten. Er wusste, dass Onkar nicht fortgelaufen war, oder erneut Verrat begehen würde. Er wusste es! Eigentlich hatte er mit dem Jungen reden wollen, doch Erschöpfung und Sorge um Lys hatten ihn bewogen, es auf den nächsten Morgen zu verschieben. Nun war es wohl zu spät …
Gemeinsam mit Lys teilte er Suchtruppen ein, sorgte dafür, dass alle regelmäßig ins Lager zurückkehren und im Wechsel gegessen werden wurde. Lys wollte sich an der Suche beteiligen, woran ihn Kirian fast mit Gewalt hinderte –
„Ich wäre jetzt auch lieber da draußen, um jeden Stock und Stein umzudrehen, aber mein Platz ist hier, um alles zu koordinieren, und dein Platz ist exakt neben mir. Deine Leute hören lieber auf dich als mich. Außerdem isst du jetzt und ruhst dich aus!“
Lys gehorchte mit erschreckender Fügsamkeit, ließ sich ansonsten wie stets nichts anmerken. Nichts von seinen Ängsten, seinen Zweifeln, seiner inneren Dunkelheit. Für alle anderen sah es so aus, als würde er vollkommen in sich selbst ruhen, in der Gewissheit, was zu tun war.
Es war schon beinahe Mitternacht, als sie Onkar zurückbrachten.
„Er hat sich erhängt, Kirian“, sagte Albor leise, der zu der Gruppe gehörte, die ihn gefunden hatten.
Kirian wollte sich neben dem toten Körper knien, der gnädig verhüllt war. Onkar ein letztes Mal ansehen. Ihn um Verzeihung bitten. Doch Albor hielt ihn fest.
„Es war nich’ deine Schuld“, sagte er entschieden.
„Woher willst du das wissen? Ich hab ihn hart angepackt“, versetzte Kirian müde.
„Er hat gewusst, dass du ihm verziehen hast, Kir, das hat er mir gesagt. Er hat’s gewusst und konnte trotzdem nich’ damit leben. Alle hatten’s gehört, dass er ein Verräter gewesen ist und dich aus Feigheit verraten hat. Das hier wär’ alles nich’ passiert, wenn Onkar uns was gesagt hätte. Hat er aber nich’, vielleicht dachte er, wir verstoßen ihn, weil er so viele Geheimnisse ausgeplaudert hat.“
„Es ist genug.“
Kirian und Albor fuhren herum, zu Lys, der diese Worte gesprochen hatte. Der junge Mann stand mit geballten Fäusten über Onkars Leiche, und in seinen Augen loderte alles vernichtender Zorn, wie Kirian ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.
„Seit Jahren tanze ich wie ein Hofnarr, jongliere mit meinen Masken, nur um den Frieden zu erhalten und möglichst wenige Opfer in diesem Spiel zu hinterlassen“, grollte er. „Es reicht jetzt. Wenn keine friedliche Lösung möglich ist, muss es Krieg geben, und zwar nach unserem Willen, nicht Maruvs.“ Langsam wandte er den Kopf zur Seite und durchbohrte Kirian mit seinem finster entschlossenen Blick. „Schwöre es mir. Schwöre mir, dass du Maruv und meinen Vater tötest, sollte ich scheitern. Die Zeit für Spiele ist vorbei, endgültig. Ich wage noch eine letzte Intrige, die mich vermutlich umbringen wird, wenn sie misslingt. Dann musst du auferstehen, Stefár, Fürst und Erbe von Lichterfels.“ Tödlicher Ernst sprach aus diesem einst so sanften Gesicht. Kirian trat auf ihn zu, packte ihn fest an den Unterarmen.
„Ich schwöre es. Was auch immer geschieht, noch vor Frühlingsbeginn wird Maruv vom Thron stürzen. Falls es Krieg gibt, dann unter meiner Führung.“ Er zauderte innerlich bei dem Gedanken, zurückkehren zu müssen, zurück zu dem Spiel , das er so sehr hasste. Doch Lys hatte recht. Sollte er scheitern und sterben, war Krieg unausweichlich.
„So sei es“, sagte Lys, drehte sich um und verschwand.
Kirian zögerte, ob er ihm folgen sollte, er wollte Onkar nicht einfach hier am Boden liegen
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