Die Saat Der Makellosen
er ihr Gesicht nicht sehen, weil er viel größer als sie war und sie nicht zu ihm aufsah.
Schließlich zwang sich Nico, sich aus seinen Armen zu lösen und endlich ihre Gedanken zu sortieren. Mit klopfendem Herzen griff sie in die Stofftasche und wühlte darin nach ihrem Handy, das orange-gelb gemustert war. Sie hätte früher daran denken und sich sofort mit ihrem Vater in Verbindung setzen sollen. Mit zitternden Händen drückte Nico die Kurzwahltaste und hielt sich es sich ans Ohr, um mit angehaltenem Atem auf den Klingelton zu lauschen.
„BABU! Geht es dir gut?“, hauchte sie in den Hörer, als er endlich abnahm. In hastigen Worten klärte sie ihren Vater über die Geschehnisse auf und bat ihn darum, sehr vorsichtig zu sein. Natürlich sagte sie nichts davon, dass sie nun Bescheid wusste über die Umwandlung.
Nico unterbrach die Verbindung und steckte das Handy wieder ein, nachdem sich ihr Vater von ihr verabschiedet und ihr versichert hatte, dass er Vorkehrungen treffen würde, um den spirituellen Schutz zu verstärken, der ihn immer umgab.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen weg und sah dann zu ihrem Beschützer auf, der bestimmt der Meinung gewesen war, dass man sie retten musste. Wenn es mehr als ein Angreifer gewesen wäre, dann hätte sie auf jeden Fall Hilfe gebraucht.
„Es tut mir leid, ich weiß, dass es dumm von mir war, einfach weg zu laufen! Es lag nicht an Ihnen. Es… Ich hatte mich einfach erschrocken… Das da ist nur ein Handlanger…“, erklärte Nico zögernd und wies mit der Hand auf den Toten.
„Der Anführer seines Clans… Er hat einen Weg gefunden, mir auf spirituellem Weg zu erscheinen! Er hat mir gedroht, meinen Vater zu töten, wenn ich nicht tue, was er verlangt… Er muss noch viel mächtiger sein als früher… Ich konnte ihn einfach nicht abwehren. Ich hätte Mélusina rufen sollen, aber… Es war mein Fehler! Sie kam im rechten Moment zurück und hat ihn erledigt. Ich habe ja gesagt, dass sie mich beschützt! Sie hat meine Hände geführt… Sie kann… von mir Besitz ergreifen und dadurch bin ich in der Lage, Dinge zu tun, die mir sonst widerstreben würden. Das ist der Dolch, den ich für Rituale verwende, weil dabei manchmal Tieropfer gebracht werden müssen… Ich hatte den Orishas ein Blutopfer versprochen, wenn Ihnen und dem Kind nichts passiert! Damit dürfte mein Versprechen wohl erfüllt sein!“
Nico biss die Zähne zusammen und wandte sich von den Chief ab, um in die Knie zu gehen und ihren Dolch aus der Wunde zu ziehen, wobei sirupartiges Blut aus dem tiefen Einstich quoll, der bisher von der Klinge verschlossen worden war. Sie hielt das Messer in der krampfartig geschlossenen Faust und sprach ein kurzes Gebet, um das Opferritual zu beenden, damit der Kreis sich schloss. Mit zitternden Fingern wischte sie die Klinge dann an dem weiten, schwarzen Hemd des Toten ab, bevor sie es in die Scheide zurück steckte.
„Wir können gehen! Sobald die Sonne aufgeht, wird nicht einmal ein Staubkorn von ihm übrig bleiben…“, murmelte sie mit dumpfer Stimme.
Nico stemmte sich nach oben und trat zurück an die Seite des Mannes, ohne dabei Mélusina zu beachten, die jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen verfolgte.
Den Rest des Weges gingen sie schweigend, wobei der Chief ihr fürsorglich einen Arm um die Schultern legte, gegen den sie sich nicht wehrte. Ihre Knie fühlten sich weich wie Butter an, sie spürte den Schock in jedem Knochen, er hatte absolut Recht, ihr Schwäche zu unterstellen.
„Hier wohne ich!“, sagte Nico leise und wies auf das alte, fünfstöckige gut gepflegte Backsteingebäude aus dem letzten Jahrhundert, in dem sich ihre Wohnung befand.
Es war eine sichere Gegend und in dem Haus wohnten viele ältere Leute oder Familien mit Kindern, weil darin noch eine Mietpreisbindung galt. Zum ersten Mal zögerte Nico, es zu betreten, weil ihr klar wurde, dass sie es vielleicht verlassen musste, weil sie nicht wollte, dass ihre Feinde sich über Unschuldige hermachten, auch wenn sie die Eingänge des Hauses so gut es ging, gegen unwillkommene Eindringlinge geschützt hatte.
Ihre Wohnung lag im zweiten Stock und die Tür war natürlich nicht abgeschlossen, weil sie es vorhin zu eilig gehabt hatte, an den Brandort zu kommen. Aber sie musste schließlich keine Angst vor Einbrechern haben. Ihre Gegner waren keine Kleinkriminellen.
„Kommen Sie ruhig rein! Sehen Sie die Zaubersprüche und Totems über der Tür? Das verhindert das Eindringen
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