Die Saat Der Makellosen
an das Versprechen, das sie ihre Mutter ihr abverlangt hatte. Und sie hatte kläglich versagt.
. . .
Rys zog sich in die hinterste Ecke der Bibliothek zurück, nachdem er ihr das richtige Buch aufgeschlagen hatte. Romy sollte sich durch ihn nicht gestört fühlen. Das, was sie in dem Album sehen würde, die Bilder und die dazu gehörigen Erinnerungen, waren schmerzhaft. Selbst auf dem Flur draußen vor der Tür würde man als Immaculate noch die Wellen ihrer Verzweiflung spüren können, die Romy überkam, als sie die Erkenntnis, dass weder sein Bruder noch er in irgendeiner Weise gelogen hatten, was ihre Familie anging, härter als jeder Schlag traf.
Sie tat ihm noch mehr leid als vorhin im Restaurant, als er damit angefangen hatte, nachzuvollziehen, was ihre Beweggründe für ihre Ablehnung ihm und Seinesgleichen gegenüber war, obwohl sie ihr nichts getan hatten. Der Schmerz, der vom Gefühlschaos in ihrem Inneren ausgelöst wurde, hätte er ihr gern abgenommen. Doch das ginge nur, wenn er das eben Erlebte, von ihr Gesehene wieder aus ihrem Gedächtnis strich und dann waren sie praktisch wieder bei Null. Das half weder ihr noch ihm.
Ganz vorsichtig tastete er mental nach ihren Gedanken, schreckte hoch, als sie das Buch von sich schob und so plötzlich von ihrem Platz aufsprang, um nach draußen zu gelangen, dass er von dem Gefühl höchster Besorgnis um sie genauso überrannt wurde wie Romy von ihren Erinnerungen an damals.
Ihr Hand glitt, kaum dass sie die Türklinke damit berührt hatte, davon ab und Romy selbst auf den Boden. Augenblicklich begann sie zu schluchzen und der Fluss ihrer Gedanken öffnete sich für ihn wie sich das Buch und die darin liegende Vergangenheit für sie geöffnet hatte.
Rys verharrte mitten in der Bewegung, auf sie zuzugehen und dem Impuls nachzugeben, sie vom Boden aufzuklauben und auf einen der Sessel zurückzusetzen, damit sie sich fassen konnte.
Er sah die Bilder in ihrem Kopf, sah das brennende Haus, die kleine Romy mit dem aufgefangenen Baby in den Armen, Marga am Fenster, die sich mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen am Ende ihrer Kraft in die Flammenhölle fallen ließ, nachdem sie ihrer Ältesten das Versprechen abgerungen hatte, sich um die kleine Schwester zu kümmern. Sie hätte leben können, wäre sie nicht so verdammt an den christlichen Glauben gefesselt gewesen. Nicht Romy sollte sich die Schuld an der Trennung der Geschwister geben sondern Marga selbst in ihrem Leben nach dem Tod, falls es so etwas gab. Sie hatte ihre Kinder im Stich gelassen. Allein und trauernd. Marga hätte leben sich aber nicht dazu durchringen können. Malakai hätte sie zwingen sollen, dann wären wenigstens die Kinder in Sicherheit gewesen. Margas Wahnsinn, der ohnehin schon in ihr wohnte, hätte sich durch die Umwandlung sicher nicht verschlimmert. Auch in der Welt der Immaculates gab es Ärzte, die sich um sie hätten kümmern können.
Wenn es wenigstens den Kindern gut ergangen wäre...
Rys konnte nicht länger dabei zusehen, wie Romy sich quälte. Er eilte an ihre Seite, ließ sich neben sie auf dem Boden nieder und zog sie tröstend in seine Arme. Sie wehrte sich gegen ihn, wollte nicht, dass er ihre Tränen sah, doch er ließ sich nicht eine Sekunde lang beirren und hielt sie solange fest, bis sie ihm nachgab und förmlich in seine Arme sank. Es kam ihm vor, als gierte sie nach dieser Art von Trost. Nach ein klein wenig Zuwendung, die sie in ihrem Leben nur eine kurze Zeit lang von der eigenen Mutter erfahren hatte, bevor sie starb.
Wie lange war es her, dass sie jemand richtig umarmt hatte? Bekky nicht mitgezählt.
Rys wollte die Antwort lieber nicht hören und hielt sie weiterhin fest. Er sprach beruhigende Worte, die wahrscheinlich nicht im Geringsten halfen, ihre jahrelang hervorragend trainierten Selbstzweifel zu zerstreuen. Dabei sagte er ihr nur das, was stimmte und was sie sowieso schon wusste, wenn sie es sich ganz ehrlich eingestand und aufhörte, sich selbst zu quälen.
„Es ist nicht deine Schuld. Du warst zu klein und ich weiß, dass du alles getan hast, um auf deine kleine Schwester aufzupassen. Du hast alles richtig gemacht und glaub mir, es gab keinen Tag, an dem unsere Familie nicht bereut hat, euch verloren zu haben.“
Gern hätte er hinzugefügt, dass alles gut werden würde. Aber das konnte er nicht. Romy hatte sich noch nicht entschieden und niemand würde sie jetzt in ihrer Situation ausnutzen und das von ihr verlangen.
Damit hätte er bei ihr
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