Die Saat - Ray, F: Saat
von der »Enthirnungsstarre«.
Aufgrund unserer labortechnischen Einrichtung können wir keine histologischen Untersuchungen vornehmen, die für eine eindeutige Klärung unerlässlich wären.
Henrik drückt die Enter-Taste, gleich wird diese Information für die ganze Welt zugänglich sein. Außer eine Regierung sperrt den Zugang oder die Seite. Er denkt an China, das die Nutzer eines Internetcafés namentlich registriert, um ihr Surfverhalten zu überwachen, oder ein Provider unterwirft sich den Bedingungen des Staates und zeigt Seiten nicht an. Es gibt viele Möglichkeiten, Informationen zu verbieten, zu löschen oder zu verfälschen. Und was nicht im Internet steht,existiert nicht … Doch sein Text existiert. Er geht zurück auf die Kommentare, die er auf seinen Blog bekommt.
»Erschreckendes Szenario!« – »Sag mal, das erfindest du doch alles!« – »Liest sich wie ein Roman, das ist echt der Wahnsinn, und wenn das alles stimmt, was du da schreibst, ist es echt der Hammer …« – »Bin gespannt auf die nächste Folge!«
Noch keiner seiner Kommilitonen in München hat seine Meinung aus medizinischer Sicht abgegeben. Auch noch kein Arzt hat sich geäußert. Es scheint, als nähme kaum jemand ernst, was er da schreibt. Weil Afrika so weit weg ist. Oder weil man an Horrormeldungen gewöhnt ist. Und von AIDS und Afrika sowieso nichts mehr hören will. Henrik lehnt sich zurück und ruft die Datei auf, in der er seine Notizen speichert.
Betty und Ruth, deren Männer sie gestern hierhergebracht haben, wohnen in demselben Dorf, aus dem Sam stammt.
Er überfliegt seine Eintragungen. Die verstorbenen Kinder haben alle in einem Dorf gelebt, das nur einen Kilometer von Sams Dorf entfernt liegt. Und drei andere, die inzwischen auch verstorben sind, haben zwei Kilometer von Sams Dorf entfernt gewohnt. Er hat die Orte auf einer kleinen Karte eingetragen. Rund dreihundert Menschen leben in diesen Dörfern.
Was löst die Krankheit aus? Warum werden nicht alle krank? Oder sind diese Einzelfälle erst der Anfang?
8
Paris
Ein Schuss von schräg unten, soweit Irène Lejeune das auf den ersten Blick erkennen kann. David kniet neben dem Toten, dessen Kopf an der Wand lehnt, wo er eine blutige Schleifspurhinterlassen hat. Harris, falls er es war, lag dabei möglicherweise am Boden. Notwehr wahrscheinlich. Dieser verfluchte Australier, der glaubt, dass er die Sache selbst in die Hand nehmen kann. Wie viele solcher Rächer sind ihr schon über den Weg gelaufen, und wie viele von denen könnten heute noch leben, wenn sie ihr und ihrer Arbeit vertraut hätten. Oft schon hat sie sich gefragt, was sie wohl tun würde, wenn jemand Roland ermorden würde – oder gar ihre Kinder.
»Ich wette, der steht auf unserer Fahndungsliste.« Mit latexbehandschuhten Fingern zieht David einen Führerschein aus der Innentasche des Toten.
Sie hat das Gefühl, dass sie einen Fehler nach dem anderen macht. Wie konnte Harris nur aus dem Krankenhaus entkommen? Jetzt hat er eine Waffe, und sie hat keine Ahnung, wo er sich aufhält. Das Auto seiner Frau haben die Kollegen entdeckt, es parkt in der Straße, wo er wohnt. Vielleicht ist er mit der Métro gefahren.
»Montenegro«, sagt David.
»Die sollte man gleich an der Grenze abfangen«, murmelt sie, und es ist ihr egal, was David jetzt denkt. Eine friedliche, glückliche multikulturelle Gesellschaft ist eine Utopie. Und Utopie heißt: So was gibt es irgendwo. So was gibt es nicht, so was wird es niemals geben. Der Mensch will nicht das andere, er will dasselbe, das, was ihm gleicht, was so denkt, so empfindet, so aussieht wie er selbst. Sie hat ein paar Jahre bei der Polizei gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Sie hat sich bemüht, die Afrikaner mit ihren Problemen und Ansichten zu verstehen, wenn sie in der Rue Saint-Denis Streife schob, bis sie nur noch kotzen musste. Warum sie zur Polizei gegangen ist? Weil sie geglaubt hat, mit ein bisschen Ordnung könnten alle friedlich miteinander leben. Weil man in ihrer Familie an so etwas geglaubt hat. Ihr Vater, der Mediävistik-Professor, der jedem Konflikt von Anfang an jede Emotion entzog, sodass es nur noch um sachliche oder garakademische Fragestellungen ging … Wut, Freude – allem nahm er die Leidenschaft. So beherrschte er die Familie. Ihre Mutter, die ihre Gefühle so sehr in sich hineinfraß, dass sie wie Krebs in ihr wucherten, und ihren Bruder, einen mit Anfang vierzig schon verknöcherten und vertrockneten
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