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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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Camille in einen Weinkrampf aus. Instinktiv legt er den Arm um ihre Schultern.
11  
Uganda
    Lukas ist nur sechs Jahre alt geworden. Schwester Gabriela hat ihn mit ihrem mobilen Krankendienst auf der Straße gefunden. Er war allein, desorientiert, konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und nicht mehr sprechen. Es war bloß eine Frage der Zeit, wann er einfach am Straßenrand gestorben wäre.
    Wir hier wussten, dass wir ihm nicht mehr helfen konnten. Dennoch gab Mary ihm ein Bett, wusch, fütterte ihn und hielt ihm die Hand, als er starb. Er war nicht HIV -positiv.

    Henrik beendet den Blog für heute. Bald ist Mitternacht. Er hat Mary, die heute Nacht Dienst hat, Bescheid gegeben, dass sie nur zu rufen braucht, er hätte etwas im Anbau zu tun. Im Anbau befindet sich das Lager für Verbandsmaterial und Medikamente – und auch das Leichenzimmer.
    Er klappt sein Notebook zu, nimmt es und auch das E-Book, das er sonst im Schreibtisch verschließt, und verlässt das Büro.
    Im Flur flackert eine defekte Neonröhre, Fliegen schwirren darum herum, bleiben an ihr kleben, verbrennen ihre Flügel. Außer diesem Flur ist alles in undurchdringlicherDunkelheit versunken. Nein, da drüben bei den Hütten glimmt ein schwaches Licht von einer Kerosinlampe.
    Seine Gummilatschen schmatzen auf dem Betonboden, zwei Käfer huschen vor ihm her und verschwinden in einer Wandspalte. Er fürchtet immer, einer Schlange zu begegnen, aber da ist keine. War da nicht eine Stimme? Er bleibt stehen, lauscht. Aber Dr. Bleibtreu ist zu Hause, immerhin zwei Kilometer entfernt. Nein, da ist nichts; nur einen Vogel hört er kreischen.
    Henrik geht am Krankentrakt vorbei und biegt dann nach links ab, zum kurzen Ende des L-förmigen Gebäudes. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, zieht er den Schlüsselbund aus der Tasche seiner Shorts und steckt den Schlüssel ins Schloss. Ein kurzes metallisches Klirren kann er nicht vermeiden, er hofft nur, Mary hat es nicht gehört. Nicht dass sie glaubt, jemand würde sich an der Tür zum Medikamentenlager zu schaffen machen. Dass die Tür quietscht, hat er nicht vergessen, er hebt sie an und schlüpft ins stickige, nach Desinfektionsmittel riechende Dunkel. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hat und in das kleine Fenster ein Stück Karton, das er heute Mittag zurechtgeschnitten hatte, geklemmt hat, wagt er, das Licht einzuschalten.
    Hier liegen die Toten nur kurz, bis sie von ihren Angehörigen abgeholt oder auf dem Friedhof bei der Klinik beerdigt werden. In der Mitte des kleinen, rechteckigen Raums steht ein am Boden festgeschraubter metallener Tisch, auf dem sich ein gelbliches Laken wölbt. Diesen Moment hat Henrik den ganzen Tag lang herbeigesehnt – und zugleich gefürchtet. Sein Herz hämmert noch stärker, und augenblicklich bricht ihm der Schweiß aus allen Poren. Er wird etwas tun, das er noch nie so getan hat. Er stellt das E-Book auf den Rollwagen, von dem die Farbe abblättert. Vom Haken an der Wand neben der Tür nimmt er den verwaschenen Kittel, zieht ihn an, bindet ihn vorne zu, hängt sich die mit Flecken übersäte weißeGummischürze über, bindet sie hinten zusammen, zieht Latexhandschuhe an und atmet tief durch. Dann tritt er an den Tisch und hebt das Tuch, schlägt es bis zur Schulter zurück.
    Den ganzen Tag lang hat er sich bemüht, den Namen des Jungen zu vergessen. Es ist ihm nicht gelungen. Lukas. Das glatte braune Gesicht mit den weichen Lippen und den langen schwarzen Wimpern sieht so friedlich aus, nicht verzerrt oder schlaff wie vor ein paar Stunden noch. Für einen Moment überfallen ihn wieder Zweifel an dem, was er vorhat. Darf er diesem Jungen das antun? Mischt er sich nicht in etwas ein, das ihn nichts angeht? Er ist doch nur ein Student, ein Praktikant, der für Kost und Logis sechzehn Stunden schuftet. Nur Dr. Bleibtreu könnte eine Obduktion anordnen. Schweiß tropft ihm in die Augen, er wischt ihn mit den Kittelärmeln ab.
    Zu Hause hatte er ein schickes Kästchen mit Präparierbesteck, hier sucht er sich aus den Fächern des Metallschranks in der Ecke die notwendigen Instrumente zusammen: Pinzetten, Knochenschaber, Muskelhaken, Zangen, eine Knochensäge – und legt alles auf den Rollwagen neben sein E-Book, schaltet es ein, ruft das Lern- und Anleitungsmaterial für den Präparationskurs auf, der schon zwei Jahre zurückliegt. Obwohl Anatomie eins seiner Lieblingsfächer war, kann er sich nicht mehr so recht daran erinnern, wie man bei einer

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