Die Saat - Ray, F: Saat
Sweatshirt auf: SAVE THE EARTH. Sie hat es vorher noch nie an ihm gesehen. Ökoterroristen. Wieso trägt er ausgerechnet heute so was? Aber ihre Gedanken schweifen ab. Halb zehn. Bei jeder Ermittlung sind die ersten Stunden die wichtigsten, heißt es, und sie hat oft genug diese Regel bestätigt gefunden. Dieser Satz setzt sie regelmäßig unter Druck, und heute spürt sie ihn wie eine Eisenplatte auf ihrem Herzen. Sie haben Nicolas Gombert verhört, er scheint die Wahrheit zu sagen. Dass ihn der Schock daran gehindert hat, die Polizei zu verständigen, ist allerdings weniger plausibel. Aber, es wäre nicht das erste Mal, dass einem Augenzeugen so etwas passiert. Auch sie fühlt sich jede Sekunde verfolgt von dem ermordeten Wissenschaftler mit dem Rattenkopf. Schon jetzt fürchtet sie den Feierabend, wenn sie nach Hause geht und die Bilder mitnimmt. Deshalb ist sie fest entschlossen, den Feierabend so weit wie möglich aufzuschieben. Auch wenn Roland und die Kinder ganz sicher nicht begeistert sein werden. Es ist immerhin Sonntag! Normale Familien unternehmen etwasgemeinsam. Gehen in den Zoo oder in den Park oder machen einen Ausflug. Normale Familien. In ihrem Beruf trifft sie nie normale Familien.
Europol ist kontaktiert, möglicherweise geht es um einen terroristischen Akt. Zwei zusätzliche Beamte hat sie bewilligt bekommen, Ibrahim, der erst vor einem halben Jahr aus der Drogenabteilung zum Morddezernat gestoßen ist, und Odette, eine junge, unerfahrene Kollegin. Lejeune muss sehen, wie sie klarkommt. Wie mich das alles ankotzt!
In die Espressomaschine auf dem Kühlschrank legt sie ein Kaffeepad und lässt einen Espresso heraus, den dritten heute, wenn sie sich nicht irrt. Diesmal nimmt sie keinen Zucker. Mit der Tasse in der Hand geht sie zum Fenster zurück und sieht auf die Straße. Heute, am Sonntag, sind nicht nur die Touristen und die jungen Leute unterwegs, die trotz des schlechten Wetters in den Straßen herumstreifen und die Cafés bevölkern, heute sind auch die Heimatlosen, die Junkies und die, die es zu Hause bei der Familie nicht aushalten, aus ihren Löchern gekrochen. Lejeune denkt an den Wachmann. Er wurde mit einem gekonnten Schnitt durch die Kehle ermordet. Wahrscheinlich ist der Täter von hinten gekommen, der Wachmann hatte keine Chance. Sie wünscht sich die Zeit zurück, als Roland noch bei der Société Générale in der Aktienabteilung gearbeitet hat. Da war die Wahrscheinlichkeit, überfallen zu werden, längst nicht so hoch wie jetzt bei G2S.
Irène Lejeune wendet sich vom Fenster ab. David tippt noch immer. Die Bestätigung vom Labor ist schon gekommen: Der Kopf gehört zum Rumpf, und der einfache Abgleich der Fingerabdrücke mit den Daten in Professor Frosts Pass – er flog häufig in die USA – hat jeden Zweifel an der Identität des Toten beseitigt: Es ist Professor Jérôme Frost.
Der bittere Geschmack des Kaffees hilft ihr, die Gedanken zu sortieren. Früher hat sie stattdessen geraucht. Gestern, am Samstag, hielten sich im Laborgebäude an der Place Jussieuaußer Professor Frost und Nicolas Gombert noch fünf weitere Personen auf: ein Professor und vier Studenten. Ab halb sechs waren – laut Kartenlesegerät – nur noch Professor Frost und Nicolas Gombert im Gebäude. Den anderen Professor, einen Professor Pétain, und zwei Studentinnen haben sie bereits ausfindig gemacht und befragt. Laut vorläufiger Einschätzung des Gerichtsmediziners ist der Wachmann um 23 Uhr 10 ermordet worden. Die Frage ist, ob der oder die Täter erst da ins Gebäude eingedrungen sind oder schon vorher. Professor Pétain, ein kleiner, gedrungener kurzsichtiger Mann mit Vollbart, haarigen Fingern und starkem Mundgeruch, hat nichts Auffälliges bemerkt. Auch die beiden Studentinnen nicht. Die Spurensicherung hat allerdings Kratzspuren am Geländer auf dem Dach gefunden, die von einem Haken stammen könnten. Ein Fassadenkletterer? Ihr fallen Leute ein, die Bäume besetzen, an Kaminen hochklettern, Schiffe entern …
David sieht plötzlich auf. »Was ist mit diesem Nicolas? Irgendwas stimmt nicht mit ihm.«
»Wieso?«, fährt sie ihn an. Sie quält ihn. Erbärmlich, Lejeune!
Er hebt die Schultern, lässt sie wieder fallen, resigniert. »Das Kokain.«
Sie antwortet nicht. Ja, Nicolas verbirgt etwas, aber ob es mit der Drogensache zu tun hat, will sie nicht so ganz glauben.
David steht auf, streckt sich und geht zum Kühlschrank.
Die Dose knackt und zischt, als er sie öffnet.
»Ein Tierfreund
Weitere Kostenlose Bücher