Die Saat - Ray, F: Saat
haben Sie mich gefun…«
Babyface grinst und deutet auf Nicolas’ Handy.
Die Polizei ist das kleinere Übel, denkt Nicolas. Er überlegt kurz, ob er Jean-Marie Bescheid geben soll, doch dann fällt ihm ein, dass der einen Schlüssel hat.
»Ich, ich wollte … Ich stehe unter Schock!«
»Verständlich. Am besten steigen Sie ein.« Der Bulle zeigt auf den Peugeot, der mit laufendem Motor am Bordstein hält. Am Steuer sitzt die genervte Kommissarin. Nicolas seufzt und steigt ein.
8
Ethan schlägt die Taxitür zu. Als er mit seinem Handkoffer und dem Strauß Rosen vor dem sechsstöckigen Haus in der Rue Dugay-Trouin 71 steht und hinaufsieht, bemerkt er, dass die Japanische Kirsche auf ihrem Dachgarten angefangen hat zu blühen, während er verreist war. Ein Zeichen, denkt er. Er schließt die Tür auf und fährt in dem altmodischen offenen Aufzug nach oben. Es ist still, wie meist in diesem Haus, Gott sei Dank, sonst könnte er hier nicht leben und arbeiten. Der Duft der Rosen ist in der Tat außergewöhnlich.
Mit einem leichten, federnden Ruck hält der Aufzug im obersten Stockwerk. Ethan schiebt die Tür auf und geht die wenigen Schritte über den knarrenden polierten Dielenboden zu der kassettenverzierten hohen Wohnungstür mit dem goldfarbenen Knauf. Ihre gemeinsame Wohnung, die sie sich gesucht haben, als er sein Leben auf der anderen Seite der Erdkugel aufgegeben hatte. Sylvie wohnte damals in einem winzigen Appartement in der Nähe des Krankenhauses. Obwohl ihre Eltern reich waren. Oder gerade deshalb. Wenn sie ins Bett wollte, musste sie den Couchtisch verrücken und das Sofa ausziehen. Er muss lächeln, wenn er an den ersten Besuch bei ihr denkt. Da malte Sylvie ihm ein rotes Herz auf sein Gipsbein.
Er klingelt, wartet. Die Wohnung ist riesig mit ihren fast zweihundert Quadratmetern. Wenn man auf der Dachterrasse steht, braucht man ein paar Sekunden bis zur Tür. Sylvie öffnet nicht. Vielleicht ist sie spazieren gegangen. Vielleicht ist sie auch zu einem Notfall gerufen worden. Die Wohnung erstreckt sich über das gesamte oberste Stockwerk, sie haben daher keine Nachbarn. Glücklicherweise. Die ältere Dame unter ihnen ist schwerhörig und hat sich noch nie über zu laute Musik beschwert. Er und Sylvie allerdings auch nicht über ihren Fernseher. Ethan sucht am Schlüsselbund den richtigen Schlüssel und schließt die beiden Schlösser auf, ärgert sich, dass Sylvie nicht abgeschlossen hat. Wozu haben wir denn die Sicherheitsschlösser einbauen lassen? Er stößt die Tür auf. Der bekannte Duft nach Sylvies Parfüm weht ihm entgegen. Aber es ist kalt. Warum hat Sylvie nicht die Heizung angeschaltet? Er stellt Tasche und Laptop neben die Tür aufs Parkett.
»Sylvie?«
Mit dem Blumenstrauß in der Hand geht er weiter, sieht ins Badezimmer, der Marmor glänzt, genauso wie die Porzellan-Armaturen, er geht in die Küche: eine Tasse, ein benutztes Messer, ein Glas in der Spüle. Sylvie frühstückt französisch: ein bisschen Brot mit Marmelade, sie benutzt keinen Teller, und einen Milchkaffee. Er ruft noch einmal, dabei ist ihm bewusst, dass Sylvie nicht da ist und ihn somit nicht gehört haben kann. Er geht ins Wohnzimmer, ihren Wintergarten, wie sie ihn nennen, mit den Möbeln im Louis-XIV.-Stil und den unzähligen Pflanzen, Gummibäumen, Orchideen, Azaleen und dem kleinen steinernen Wasserbecken, in dessen Mitte ein Springbrunnen rieselt. Meine Orangerie, sagt Sylvie dazu. Für einen Moment hält er es für möglich, dass sie lesend auf der Couch eingeschlafen ist, einmal hat er sie so angetroffen, aber, fällt ihm ein, da hat er vorher nicht geläutet. Es bleiben sein und Sylvies Arbeitszimmer und das Schlafzimmer. Er bemerkt, wie seine Bewegungen langsamer werden. Er magkeine Überraschungen. Irgendetwas stimmt nicht. Sein Gehirn präsentiert ihm Bilder aus Filmen, aus Zeitungen, aus seinen eigenen Büchern, er wehrt sie alle ab. Sie wird mir eine Nachricht hinterlassen haben, und dann hat sie einfach vergessen abzuschließen. Er entscheidet sich für das Schlafzimmer. Die Tür ist angelehnt, er drückt sie auf. Sylvie schläft!, doch das denkt er nur für einen Augenblick. Dann reißt sein Film.
9
Irène Lejeune krempelt die Ärmel ihrer weißen Bluse hoch, die sie unter einer engen Weste trägt, die wiederum genau zum Rock passt, lehnt sich ans Fenster und sieht für einen Moment gedankenverloren David an, der konzentriert auf seinen Monitor blickt. Erst jetzt fällt ihr der Spruch auf seinem
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