Die Saat - Ray, F: Saat
Name, was?«
Frohe Botschaft – eine perfide Idee, einem Knast einen solchen Namen zu verpassen. Camille setzt sich auf seinen Schreibtisch und sieht zu ihm hinunter.
»Warum fährst du nicht?«
Dieses schiefe, triumphierende Grinsen. Manchmal hasst sie seine Masche, sie anzumachen.
»Weil du eine Frau bist und anders mit ihr reden kannst. Von Frau zu Frau sozusagen.« Er streift mit dem Finger über ihren Oberschenkel bis zum Knie.
Verflucht. »Christian, ich hab meinen Vater am Hals …« Sie rutscht vom Schreibtisch, geht zu ihrem Platz.
»Tut mir leid, aber du musst nach Rouen, ich habe noch sechs andere Leute zu treffen«, sagt er nüchtern.
»Meinetwegen. Wenn du es für mich organisierst.« Sie schaltet ihren Computer aus. Endlich mal nicht so spät fürs Krankenhaus. Sie wirft ihr Handy in die Tasche, holt den Autoschlüssel heraus.
»Sicher, ma chère!« Schwungvoll dreht er sich auf seinem Bürostuhl in ihre Richtung. »Und sag deiner Schwester, dass sie sich mal um euren Vater kümmern soll, sie wird schließlich die Hälfte des Erbes kassieren, oder?«
»Idiot!«, murmelt sie verärgert und wirft die Tasche über ihre Schulter. Trotzdem – er hat recht.
8
Einige Male schon ist Ethan durch diese Tür gegangen, da in seinen Romanen hin und wieder auch Leichen auftauchen. Als Schriftsteller muss man wissen, wie die Räume aussehen, in denen die Toten aufbewahrt und aufgeschnitten werden, wie es sich anfühlt, im kalten Licht die metallischen Töne der Messer und Sägen zu hören, wenn sie sich durch Knochen fräsen. Man muss die Luft gerochen haben, das süßlich scharfe Aroma, den Kampf zwischen dem natürlichen Prozess der Verwesung und dem ihrer künstlichen Verhinderung. Und man muss mit den Leuten gesprochen haben, denen in die Augen gesehen haben, die sich in diesen Räumen bewegen. Sylvie hat ihm diesen Kontakt vermittelt, Pauline Fourier, ihre Studienkollegin.
Pauline steckt die Hände in ihren weißen Kittel. Der Mundschutz baumelt an ihrem Hals wie ein zu großes Amulett. Die Gummischürze hat sie woanders gelassen. Ethan kennt sie seit zwei Jahren, als er Das letzte Mal schrieb, seinen ersten und bisher einzigen Kriminalroman. Seitdem hat er Pauline hin und wieder angerufen, da sie ihn zu einer Romanfigur inspiriert hat, und seit einem halben Jahr ist sie sogar öfter zu ihm und Sylvie zu Besuch gekommen.
»Ich musste noch nie …« In ihren Augen kann er eine Träne sehen. »Lejeune kriegt noch heute meinen Bericht. Sie weiß nicht, dass wir uns kennen, und sie weiß auch nicht, dass du jetzt hier bist. Eigentlich ist es gegen die Regeln.«
Sie räuspert sich, zögert. Was will sie ihm sagen? »Ich will nicht, dass wir beide Schwierigkeiten kriegen. Aber ich finde, du solltest es als Erster wissen.«
»Sicher«, sagt er, obwohl er keine Ahnung hat, was sie meint. Vielleicht wäre es besser, es nicht zu wissen. »Kann ich sie noch einmal sehen?«
Pauline nickt und geht voran. Vor der Tür weist sie auf einen Behälter, aus dem er sich einen Mund- und Nasenschutz nimmt. Er legt ihn sich an und betritt hinter ihr den gleißend hellen Raum. Er denkt an das weiße Leuchten, von dem Menschen berichten, die wieder ins Leben zurückkehren. Und wenn es nur das grelle Leuchten der OP- und Leichenschauhauslampen ist?
Nur auf einem der vier Metalltische liegt etwas. Ein kleiner Hügel, über den sich ein weißes Laken breitet. Wie klein ein Mensch wird, wenn er tot ist. 21 Gramm, wird behauptet, wiegt ein Mensch weniger, wenn er tot ist, 21 Gramm, das sei das Gewicht der Seele. Pauline schlägt das Laken nur ein wenig zurück, gerade so, dass er ihr Gesicht und ihren Hals sehen kann. Weiß und steinern. Sylvies Haar hat dieselbe Farbe wie die Weizenfelder, durch die er und sie vor Jahren mit dem Fahrrad gefahren sind. Wie lange ist das her? Unendlich lange. Er verdrängt die aufkommende Erinnerung, wie er Sylvies Haut berührt hat. Wie sie gerochen hat. Recht, Gerechtigkeit, Professor Frost, denkt er, wartet auf eine neue Empfindung, auf Wut oder Enttäuschung, auf irgendetwas anderes als diese … diese verdammte Trauer. Diesen Schmerz, diese Wunde …
Pauline lässt das Laken wieder fallen. »Laut Protokoll hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten und ein Schlafmittel und Alkohol genommen.«
»Cognac und Valium«, sagt er überflüssigerweise.
»Ja. Aber …«
»Was aber?« Was kommt jetzt? Eine weitere Enthüllung, die Sylvie noch fremder werden lässt?
»In der Backentasche habe
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