Die Saat - Ray, F: Saat
Kühlschranktür auf, die Packung Milch schwappt über. Mist! Sie packt die Weißweinflasche am Hals, als wollte sie sie erwürgen, und wischt mit dem Spüllappen über den Boden. Unhygienisch! Ihre Mutter hätte sie mit missbilligenden Blicken und einem Kopfschütteln bedacht. Zu spät, Maman, ich hoffe, im Himmel gibt’s ordentliche Putzfrauen und Hausmädchen, die du herumkommandieren kannst! Sie durchtrennt mit dem Messer die Banderole, dann bohrt sie den Korkenzieher in den Korken. Neuseeländischer Chardonnay. Cloudy Bay. Fünfunddreißig Euro. Die Flasche, die sie vor vier Wochen mit Claude trinken wollte, der dann abgesagt hat. Sie weiß schon gar nicht mehr, warum. Im Nachhinein ist es ihr lieber so. Es hätte Verwicklungen gegeben, weil sie sich sicher eingebildet hätte, sich in ihn verlieben zu müssen, nur weil sie einmal miteinander geschlafen hatten. Der Wein ist fast honigfarben, der Duft explodiert in ihrer Nase. Immerhin! Billiger Wein hätte ihr jetzt den Rest gegeben!
Mit dem Glas in der Hand geht sie an den dunklen Holztisch zurück, der nicht nur Esstisch, sondern auch Arbeitstisch ist, weil sie arbeitet, wenn sie isst, und umgekehrt. Soll ich mich etwa allein an einen Tisch setzten und beim Essen die Wände oder die Mattscheibe anstarren? Seit ihrer Rückkehr aus Bonne Nouvelle um halb acht gestern Abend hat sie drei Stunden im Internet nach dem Begriff The Project gesucht. Es gibt unzählige davon auf der Welt. Arbeitsprojekte von Ingenieurbüros, von Hilfsinitiativen, von Banken, Schulen, es war bodenlos.
Sie braucht einen anderen Zugang. Nähere Angaben, irgendeinen Anhaltspunkt. Sie schaltet das Notebook aus, setzt sich auf die Couch, legt die Beine hoch und nimmt sich vor, den Wein, den sie sich eigentlich nicht leisten kann, zu genießen. Véronique liegt schon längst auf ihrer Gefängnispritsche und sinnt vielleicht darüber nach, womit man sie am Abend vergiftet haben mag.
Sie gießt sich nach. Ihr Vater würde den Wein nicht anrühren, für ihn gibt es nur französische Weine. Nationalist, hat sie ihn öfter genannt, worauf er nur gelächelt hat. Die Welt hat sich verändert, Papa, hat sie öfter gesagt. Das stimmt, aber ich habe mich nicht verändert, hat er geantwortet. Ein halsstarriger alter Mann ist er geworden, der der Welt mit jedem Jahr, das er älter wurde, zynischer und feindseliger begegnet ist. Warum hast du immer noch nicht geheiratet? Stimmt etwas nicht mit dir? Wenn du keine Familie willst, dann verdien wenigstens Geld. Oh, all das gehört zu seinen Lieblingssätzen. Und immer wieder ärgert sie sich darüber und antwortet auch noch darauf. Prost, Papa! Sie trinkt das Glas mit großen Schlucken leer und schenkt sich nach. Manchmal wünscht sie sich, ihr Vater wäre endlich auch tot, dann wäre sie frei. Frei von seinen Erwartungen. Tief in ihrem Innern glaubt sie unentwegt, sie erfüllen zu müssen. Wie hat Valéria es geschafft, ihren Weg zu gehen? Sich nur zu melden, wenn es ihr gerade passt?
Nein, sie wird nicht zu ihrem Vater ziehen. Niemals.
Und die Sache mit Christian? Sie ordnet sich ihm unter, tanzt nach seiner Pfeife.
Es ist Zeit, unabhängig zu werden. All das zu tun, worauf sie Lust hat. Sie will sich nichts mehr verbieten. Und worauf hast du Lust? Was willst du von deinem Leben?
An den Wein könnte sie sich gewöhnen.
Also, Camille, was, verflucht, willst du von deinem Leben?
Der Wein leuchtet sonnengelb, wenn sie das Glas gegen dasLicht der Stehlampe hält. Eine neue Wohnung? Geld? Macht? Erfolg? Ruhm? Und Liebe. Ja, genau das. All das. Prost, Camille, warum auch nicht? Du musst nur aufhören, nach den Regeln der anderen zu leben. Schaff dir deine eigenen Regeln. Die Welt ist so, wie du sie siehst!
Bonne Nouvelle – Frohe Botschaft. Was glauben Sie wohl, warum man mich ausgerechnet hier eingesperrt hat?
Keine Ahnung, Véronique. Warum hast du es mir nicht einfach gesagt?
Sie gießt sich den Rest der Flasche ein. Gut, sie lässt sich auf das Spiel ein. Aber sie wird es nach ihren eigenen Regeln spielen. Prost, Camille.
15
Ethan dreht die Dusche auf und stellt sich darunter. Und dann läuft der Film wieder ab. Ihre Augen, ihr nervöses Blinzeln, wie sie sich vorbeugt und mit englischem Akzent sagt: Mister Harris, haben Sie schon mal von DRMA gehört? Dro …, dann die Explosion, das Loch zwischen ihren Augen und die Kugel, die ihn nur knapp verfehlt.
Er macht die Augen auf und erschrickt von dem heißen Nebel, der ihn umgibt. Er reißt die
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