Die Saat - Ray, F: Saat
breitbeinig in der Tür, steckt gerade den Schlagstock zurück in die Halterung an ihrem Gürtel.
»Haben Sie sie geschlagen?«, fragt Camille entsetzt.
Die Wärterin grinst breit. »Kennen Sie sich mit Pferden aus? Denen muss man oft nur die Peitsche zeigen, damit sie parieren.«
Camille nimmt ihre Tasche und geht zur Tür. Sie wird sich an Amnesty wenden oder an eine andere Menschenrechtsorganisation. Es ist unglaublich. Und da regt man sich auf über die Zustände in türkischen oder afrikanischen Gefängnissen …
»Im Übrigen hatte ich nicht den Eindruck, dass Véronique Regnard eine Lügnerin ist«, sagt sie.
Die Wärterin zieht die dichten dunklen Augenbrauen hoch. »Natürlich nicht! Das macht sie ja auch sehr gut mit ihrer Seht, wie tapfer ich bin, ich nehme die Schlechtigkeit der Weltauf mich -Masche. Kommen Sie, ich muss Sie rausbringen. Allein kommen Sie hier nämlich nicht raus.«
Das wäre ein Albtraum, denkt Camille, und so beeilt sie sich, ihr zu folgen, zurück durch die verschlungenen Gedärme der Anstalt hinaus in die Welt. Am letzten Gitter vor dem Empfangsraum dreht sich die Wärterin zu ihr um, nachdem sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat.
»Sie hat Ihnen sicher nicht erzählt, dass sie seit dem siebzehnten Lebensjahr unter Magersucht leidet. Und wissen Sie auch, warum? Weil sie glaubt, dass alles vergiftet ist, was sie isst. Was glauben Sie wohl, was sie hier isst?«
»Sagen Sie’s mir.«
Die Wärterin schüttelt den Kopf. »Das darf ich nicht sagen.«
Camille stellt sich dumm, sie weiß, dass die Wärterin Geld will.
»Ich meine, damit wäre sie so gut wie überführt.«
»Überführt?«
»Ja, dass sie unter Verfolgungswahn leidet! Die mit ihrer dämlichen Verschwörungsgeschichte!«
Die Wärterin spricht nicht weiter, Camille wägt kurz ab, dann zieht sie einen Fünfzig-Euro-Schein aus ihrer Geldbörse. Schon streckt die Wärterin die Hand danach aus, doch Camille ist schneller.
»Erst die Information.«
Die Wärterin zögert nicht lange. »Allen, denen sie hier begegnet, redet sie ein, dass sie vergiftet werden sollen. Ihre Unterstützer schicken ihr besonderes Wasser in Flaschen. Das von uns trinkt sie nicht. Ist vergiftet, behauptet sie, mit Schwermetallen und Antibiotika und sonst was. Sie hat die Ärztin irgendwie rumgekriegt, dass sie auch das Essen von draußen kriegt. Bohnenpampe und Reis. Jeden Tag. Ich sag Ihnen, die Küche hier ist viel besser.«
Camille überlässt ihr den Schein, die Wärterin steckt ihnrasch ein. Fünfzig Euro waren eindeutig zu viel für diese Information. Was und wem soll sie glauben? Sagt diese seltsame kleine Frau, die bestimmt schon wieder zurück in ihrer winzigen Zelle ist, wo sie womöglich die nächsten Jahre nur für ein paar Stunden täglich ein kleines Himmelsquadrat über sich sehen wird, die Wahrheit? Oder ist Véronique Regnard einfach nur gut darin, Menschen zu manipulieren?
Als sie wieder auf der Straße steht, sieht sie hinauf in den grauen Himmel und erkennt, dass das Grau aus vielen ganz verschiedenen Schattierungen besteht – Zementgrau, Meergrau, Taubengrau, Aschgrau … und mit jedem Regentropfen, der währenddessen auf ihr Gesicht fällt, fühlt sie, wie der Druck allmählich aus ihrem Kopf entweicht.
The Project – das klingt wie ein Hirngespinst aus Véronique Regnards Paranoia.
13
Mailand – Parma
Die Maschine landet mit zehn Minuten Verspätung auf dem Mailänder Flughafen. Eine Dreiviertelstunde später fährt Ethan mit einem gemieteten mondsteinmetallicfarbenen BMW 325i Coupé auf die A1, die Autostrada del Sole, in Richtung Parma. Die Sitze riechen nach Leder, was Ethan immer als angenehm empfindet, jetzt ist es ihm egal. Der Wagen schießt lautlos über die Straße.
Als er im Flugzeug die Zeitschrift der Airline in das Fach der Rückenlehne zurücksteckte, hat er sich gefragt, warum er mit Sylvie nie das Verdi-Festival in Parma besucht hat. Sie hat die Oper geliebt, er weniger, aber das mag daran liegen, dass er sich darin zu wenig auskennt. Paganini und Verdi waren Leiter des Hoforchesters in Parma, Toscanini wurde in Parma geboren. Auch Bernardo Bertolucci und Lino Venturastammten aus Parma, wie die Zeitschrift stolz informiert. All die verpassten Gelegenheiten …
Der Dom wird im Kapitel über die Sehenswürdigkeiten erwähnt, es heißt darin, der Grundstein sei Mitte des elften Jahrhunderts gelegt worden, doch weder auf das Portal noch auf das Baptisterium wird näher eingegangen.
Hinter
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