Die Saat - Ray, F: Saat
sich noch nicht einmal verstellen muss. Sie erwähnt die Tabletten in Sylvies Mund.
»Wir tun unser Bestes, Monsieur Harris. Wenn Ihnen dazu etwas einfällt«, sie macht eine Handbewegung, »bitte.«
»Das ist alles zu viel für mich.« Er steht auf. »Ich möchte jetzt gehen.«
Er wartet darauf, dass sie ihn festnimmt, irgendeinen Grund findet, ihn am Gehen zu hindern. Doch sie schweigt. Erst als er an der Tür ist, meldet sie sich wieder zu Wort: »Sie sollten mit uns kooperieren, Monsieur Harris! In der Nähe von Dr. Antonellis Leiche wurden Spuren von Ihnen entdeckt.«
Wieso, was? Haare? Fingerabdrücke? Oder blufft sie?
Er bemüht sich, ruhig zu bleiben. »Tatsächlich?«
Sie greift in eine Schublade und hält einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch.
Seine angebrochene Schachtel Gauloise.
»Da sind Ihre Fingerabdrücke drauf. Sie lagen nur zwanzig Zentimeter neben Dr. Antonellis leblosem Körper auf den Steinfliesen des Baptisteriums.«
Unwillkürlich will er in seine Manteltasche greifen. Lejeune kommentiert es mit ihrem spöttischen Grinsen.
»Wollen Sie sich nicht doch wieder setzen, Monsieur Harris?«
Welche Möglichkeiten bleiben ihm? Wenn sie ihn verhaftet, sitzt er fest. Vielleicht zieht sie gleich den Haftbefehl aus der Schublade.
Er schüttelt den Kopf. »Verhaften Sie mich, wenn Sie einen Haftbefehl haben.«
Gewagt! Aber er muss hier raus. Er lächelt kurz.
Gleich wird sie ihn zurückrufen, er streckt die Hand aus, er öffnet die Tür, und dann ist er draußen, im Flur, noch nicht gerettet, aber gleich. Ein rascher Blick über die Schulter, nein, sie kommt nicht hinter ihm her, auch keiner der anderen Beamten.
Er fällt fast die Treppe hinunter, dann ist er endlich auf der Straße, aber er weiß, auch da können sie ihn noch kriegen. Er überquert die Kreuzung und mischt sich unter eine Gruppe Studenten, die zur Uni wollen, lässt sich ein Stück mittreiben und dann, als er das Schild eines Taxis erkennt, reißt er sichlos, winkt, steigt ein und sinkt auf den Rücksitz. Er muss nach Hause und dann untertauchen. Zouzou, fällt ihm ein, und er ruft die SMS ab.
»Warum lassen wir ihn einfach gehen?«, fragt David. Er blickt noch immer zur Tür, durch die Ethan Harris gerade gegangen ist. »Er hat sich ziemlich seltsam benommen. Als ob er das mit dem Mord an seiner Frau schon gewusst hat.«
Lejeune antwortet nicht, wirft den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und ruft per Kurzwahl Ibrahim an. »Ich brauche eine Beschattung für Ethan Harris. Er hat gerade mein Büro verlassen.«
Ibrahim sagt nur Okay. Das schätzt sie an ihm.
»Harris hilft uns bei unserer Arbeit«, erklärt sie.
David runzelt die Stirn. »Aber das ist gefährlich für ihn. Wenn ihm etwas zustößt …«
Lejeune winkt ab. »Deshalb hab ich Ibrahim angerufen.«
David kratzt sich am Kopf, die Stirn ist noch immer gerunzelt. »Dürfen wir das?«
»Passen Sie auf, David, wir haben einen Täter zu finden, der wahrscheinlich vier Morde begangen hat. Wir können es uns nicht leisten, wählerisch in unseren Methoden zu sein.«
»Aber … aber wir bringen noch einen Menschen damit in Gefahr …«
Sie klappert mit dem Kugelschreiber. »Blödsinn. Wir schützen ihn.« Mist! Immer diese dumme Angewohnheit! Genervt legt sie den Kugelschreiber zur Seite. Sie merkt, wie David sie anstarrt. Er mag meine Methoden nicht. Und wenn schon. Der Erfolg in all den Jahren und die Position, die sie erreicht hat, geben ihr recht. Es gibt keine klaren Regeln im Kampf gegen das Böse. Das weiß der Junge noch nicht.
»Und übrigens, diese Briefe, die wir bei Frost gefunden haben, weisen noch nicht mal seine Fingerabdrücke auf.«
»Das heißt …«
»Dass er Handschuhe angezogen hat, um seine Post zu öffnen.«
»Aber das ist doch ziemlich unwahrscheinlich …«
»Klug, David.«
Er errötet, bemerkt sie schadenfroh, doch nur einen winzigen Moment später ist sie beschämt. Warum findet sie einen solchen Gefallen daran, ihn zu quälen?
»Der Mörder hat die Briefe selbst mitgebracht.«
Sie nickt gedankenverloren. Es brodelt in ihr. Jahrelang aufgestaute Wut, die sich da in ihrem Bauch, in ihrer Brust, in ihrem Hals und in ihrem Kopf zusammengeballt hat, pulsiert und kann jeden Moment explodieren. Eigentlich wundert es sie, dass sie noch keinen Krebs hat, irgendeinen Knoten, in den sich all die Wut zusammengezogen hat. Gibt es noch irgendetwas, woran sie sich erfreut? Was sie entspannt? Was ihr ein bisschen Freude am Leben schenkt? Sie
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