Die Saat - Ray, F: Saat
sucht in ihrem Gedächtnis wie auf den Wühltischen billiger Secondhandläden. Doch jedes T-Shirt, jeder Rock, jede Bluse, die sie aus den Haufen zieht, ist zerschlissen und hässlich, während die anderen Kunden im Laden jedes Mal etwas Schönes, Neues in der Hand halten.
»Sagen Sie …«, Davids Stimme dringt wie durch einen Nebel zu ihr, er deutet auf den Plastikbeutel mit der Zigarettenschachtel. »Sie hätten mir vorher sagen sollen, warum ich die Zigaretten kaufen sollte.«
Wozu?, will sie ihm entgegnen. Doch vielleicht ist es sein Blick, der ihr sagt, dass sie es weit genug getrieben hat.
»Ja, Sie haben recht, David.«
Das macht ihn sprachlos, er nickt schwach.
»Es hat funktioniert. Er glaubt, wir haben etwas in der Hand gegen ihn.«
17
Das De Crillon an der beeindruckenden Place de la Concorde, gleich neben der eleganten Rue du Faubourg Saint-Honoré, nicht weit von der Rue Royale, dem Eiffelturm und dem Louvre, gehört zu der Handvoll Luxushotels in Paris. Camille hat noch rasch die Homepage des Hotels angesehen, das seinen außergewöhnlichen Service betont und in einem Spot die eleganten, großzügigen Suiten und Zimmer zeigt, die Camille an die Wohnung ihres Vaters erinnert haben und damit auch an das Problem, das sie noch nicht angegangen hat: Wer kümmert sich um ihren Vater, wenn er entlassen wird?
Der Taxifahrer hupt und flucht, Camille sieht auf, kann aber nichts Ungewöhnliches im üblichen dichten Verkehr am Samstagmittag entdecken. Die Produktionsfirma von ParisCult zahlt die Reisekosten für die Interviewgäste, allerdings nicht die Übernachtung in einer De-Crillon-Suite für zwölfhundert Euro. Edenvalley hat stillschweigend selbst die Kosten für ihre Vizepräsidentin Dr. Océane Rousseau übernommen.
Zum Lunch hat sie Camille ins Obélisque in die Rue d’Anglas bestellt, unweit vom Hotel. Das Restaurant wird vom Chefkoch des De Crillon geleitet. Dr. Océane Rousseau – das wird schon so eine elitäre Zicke sein, denkt Camille und klappt den Taschenspiegel zu, in dem sie an der roten Ampel Makeup, Lippenstift und Frisur überprüft hat. Das Blond ihrer Haare leuchtet hell. Zum Glück muss sie noch nicht färben.
Sie ruft sich noch einmal die Eckpunkte von Rousseaus Biografie ins Gedächtnis. Es ist immer gut, die Details parat zu haben. Um zu kontern, um im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen. Océane Rousseau, vor fünfundvierzig Jahren als Tochter von Lucien Rousseau, Chemiker, und Marala Dawesar, Pianistin, in Genf geboren. Kindheit in Genf und Los Angeles, Wirtschaftsstudium in Yale, USA, dann WallStreet, Crédit Suisse in Zürich, seit sieben Jahren bei Edenvalley Genf/Atlanta. Sie soll in ihrer Freizeit Klavier spielen. Geschätztes Jahreseinkommen: eine Million Euro. Das briefmarkengroße Foto der Firmenhomepage zeigt ein ovales Gesicht, das von langem, gescheiteltem, seidig glänzendem dunklem Haar umrahmt wird. Mit intensiven dunklen Augen blickt sie in die Kamera, und ihr Mund versucht dabei, lächelnd zu versichern: Habt keine Angst vor mir, ich bin doch eine von euch.
Camille wundert sich, dass Christian sich das Treffen entgehen lässt.
Zwei Minuten vor halb eins, stellt sie fest, als das Taxi es endlich über die brodelnde Place de la Concorde hin zum Restaurant geschafft hat. Auf keinen Fall möchte sie Rousseau warten lassen, das wäre wirklich nicht angebracht. Und so verzichtet sie auf die Quittung, springt aus dem Taxi, steht um Punkt halb eins im Restaurant – und blickt geradewegs in das lächelnde Gesicht von Océane Rousseau, die sich gerade aus ihrem Mantel helfen lässt.
»Madame Rousseau?«, sagt Camille überflüssigerweise zu der hochgewachsenen, sehr schlanken Frau, die ein schlichtes, eng anliegendes graues Kleid mit Rollkragen trägt. Das seidige dunkle Haar hat sie tief im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr bis weit unter die Schulterblätter reicht. Perfekte Figur, perfektes Make-up … Unantastbar.
»Camille … nehme ich an?«
Perfektes Französisch, weder amerikanischer noch schweizerischer Akzent, stellt Camille fest und nimmt den Hauch eines ihr unbekannten schweren Parfüms wahr. Etwas irritiert sie an dieser Frau, ihre Kühle und Arroganz vielleicht … Sie rätselt darüber, während sie Océane Rousseau und dem Kellner zum Tisch folgt.
»Ich bin froh, dass Sie und Edenvalley den Mut haben, sichin dieser heiklen Angelegenheit zu äußern«, beginnt Camille das Gespräch. Alle Tische sind
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