Die Saat
Gegenteil jener Situation, die beim Einsturz der Twin Towers vorgelegen hatte. Dank eingescannter Pässe, der Passagierliste und der Tatsache, dass die Leichen unversehrt waren, war die Identifikation der Verstorbenen eine unkomplizierte Angelegenheit. Die eigentliche Herausforderung würde die Ermittlung der Todesursache werden.
Die Plane auf dem Boden wellte sich unter den schweren Stiefeln des HAZMAT-Teams, das die blauen Vinylsäcke einen nach dem anderen schweigend, mit reglosen Mienen auf die Lastwagen verlud.
»Eigentlich müsste es hier Fliegen geben«, wiederholte Eph. Im Licht der überall im Hangar aufgestellten Strahler war zu erkennen, dass bis auf die eine oder andere träge Motte keine Insekten über den Leichen schwebten. »Warum gibt es hier keine Fliegen?«
Nach dem Tod eines Menschen müssen die Bakterien im Verdauungstrakt, die zu Lebzeiten mit dem gesunden Wirt in perfekter Symbiose existieren, für sich selbst sorgen. Zuerst machen sie sich über das Innere des Darms her, fressen sich dann durch die Bauchhöhle und verzehren schließlich die Organe. Fliegen können die Ausdünstungen eines verwesenden Körpers bis auf mehrere Kilometer wahrnehmen.
Und hier, in diesem Hangar, waren zweihundertundsechs Mahlzeiten für sie angerichtet. Es hätte vor Ungeziefer nur so wimmeln müssen.
Eph ging auf zwei HAZMAT-Beamte zu, die gerade einen Leichensack versiegelten. »Warten Sie einen Moment«, sagte er zu ihnen. Die Männer richteten sich auf und traten einen Schritt zurück, während Eph in die Hocke ging und den Reißverschluss öffnete.
Es war das kleine Mädchen, das an der Hand seiner Mutter gestorben war. Unbewusst hatte sich Eph gemerkt, wo sie lag. Die Kinder vergisst man nie.
Das blonde Haar war plattgedrückt. Ein Anhänger, eine lächelnde Sonne an einer schwarzen Schnur, ruhte in ihrer Halskuhle. Das weiße Kleid ließ sie fast wie eine Braut aussehen.
Während die Beamten den nächsten Leichensack versiegelten und aufhoben, ging Nora zu Eph hinüber und beobachtete, wie er behutsam den Kopf des Mädchens anhob und hin und her drehte.
Der Rigor Mortis, die Leichenstarre, setzt etwa zwölf Stunden nach Eintritt des Todes ein und hält dann für circa zwölf bis sechsunddreißig Stunden an - in dieser Zeitspanne befanden sie sich jetzt -, bis die Kalziumverbindungen in den Muskeln aufbrechen und der Körper wieder beweglich wird.
»Kein Rigor«, sagte Eph.
Er umfasste Schulter und Hüfte des Mädchens, drehte sie auf den Bauch, knöpfte ihr Kleid auf, entblößte das Rückgrat, die kleinen knollenförmigen Verdickungen der Wirbelsäule. Ihre Haut war bleich und mit Sommersprossen übersät. Keine größeren Flecken.
Nach einem Herzstillstand sackt das Blut in den Gefäßen nach unten. Die gerade mal eine Zelle starken Kapillarwände geben diesem Druck nach und zerreißen. Das Blut dringt in das umliegende Gewebe ein, sinkt dann weiter bis zur je nach Lage tiefsten Körperregion, wo es schnell gerinnt. Diese ersten Leichenflecke zeigen sich nach etwa sechzehn Stunden.
Sie hatten diesen Zeitpunkt inzwischen längst überschritten.
Da die Passagiere in sitzender Position gestorben und anschließend auf ebener Fläche aufgebahrt worden waren, hätte das gerinnende, dickflüssige Blut die Haut um das Steißbein des Mädchens herum tiefrot färben müssen.
Eph ließ den Blick über die Leichensäcke wandern. »Warum verwesen diese Körper nicht so, wie sie es eigentlich sollten?«
Er drehte das Mädchen wieder auf den Rücken und schob dann mit geübter Hand das Lid des rechten Auges zurück. Erwartungsgemäß war die Hornhaut getrübt und die Sklera, die schützende Lederhaut des Auges, eingetrocknet. Eph inspizierte die Fingerspitzen der rechten Hand - jener Hand, mit der das Mädchen ihre Mutter festgehalten hatte. Sie war durch die Verdunstung der Körperflüssigkeiten leicht gerunzelt, was ebenfalls dem normalen Verlauf entsprach.
Verwirrt von den uneinheitlichen Befunden, wandte sich Eph wieder dem Gesicht des Mädchens zu und schob die behandschuhten Daumen zwischen die Lippen des Mädchens. Das Geräusch, das aus dem auseinandergedrückten Kiefer kam und in etwa so klang, als würde die Kleine nach Luft schnappen, war ganz natürlich: Folge des Entweichens von Gasen aus dem Körper. Der Mundinnenraum war völlig unauffällig. Eph schob einen weiteren Finger hinein, um die Zunge nach unten zu drücken und zu kontrollieren, ob die Haut auch hier trocken war.
Gaumensegel und
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