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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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her, dass der Brillendieb sie attackiert hatte, aber der Schock hielt noch an: Die Augen hinter ihrer verkratzten Ersatzbrille waren weit geöffnet, als sie uns die Tür öffnete. Als seien ihre Pupillen seit dem Angriff erstarrt.
    »Es ist sehr freundlich, dass Sie uns empfangen«, sagte Hirsch

    und verbeugte sich tief vor Frau Setagaya. »Ich möchte, dass Sie wissen, wie sehr wir den Verlust Ihrer Brille mit Ihnen betrauern.«
    »Vielen Dank«, sagte Frau Setagaya und verbeugte sich ebenfalls. Dann brach sie, gänzlich unjapanisch, in Tränen aus.
    »Es tut mir leid«, schluchzte sie. »Es ist nur so: Ich verstehe nicht, wie ein Mensch einem anderen die Brille rauben kann. Jemandem die Brille wegzunehmen, das ist, als nehme man ihm die Seele weg.«
    Hirsch nickte verständnisvoll und tätschelte der Frau die Schulter.
    Sie erzählte, wie sie an besagtem Tag wie jeden Morgen in die Stadt gefahren war, bis zur Bahnstation Shinjuku, wo sie noch mal in einen Regionalzug wechselte, der sie zur Arbeit brachte. Als sie abends wieder in Shinjuku umsteigen wollte, umklammerte sie kurz vor dem Bahnsteig von hinten plötzlich ein Arm, während ihr eine Hand die seit Jahren so erfolgreich getragene Brille von der Nase riss. Bevor sie wusste, was geschehen war, war der Täter weg. Beschreiben konnte sie ihn, bei –3,5 und –5,5 Dioptrien Kurzsichtigkeit, leider nicht.
    »Woher wissen Sie, dass es ein Mann war?«
    »An der Art, wie er zugriff. An seinen Händen.«
    »Hmh«, machte Hirsch in der Art eines ermittelnden Londoner Sonderkommissars. »Hmh. Hmh. Hmh.«
    »Haben Sie in Ihrem Umfeld jemals jemanden bemerkt, der scharf auf Ihre Brille gewesen sein könnte?«, fragte ich, der auch mal was sagen wollte.
    Frau Setagaya schüttelte den Kopf, als sei die Frage völlig absurd.
    »War irgendwas Besonderes an der Brille?«
    »Es war eine ganz normale Brille. Ein Stahlgestell, Kassenmodell, gekauft in einem kleinen Geschäft in Atami.«
    »Baujahr?«, wollte Hirsch wissen.
    »1989 bekam ich sie geschenkt, glaube ich. Von meinem damaligen Freund.«

    »Heute sind Sie Single?«
    »Leider ja«, sagte Frau Setagaya. »Ist das wichtig?«
    »Alles könnte wichtig sein. Darf ich Sie fotografieren? Aber bitte ohne Brille.«
    Frau Setagaya blickte kurz verstört, nahm dann aber ihr Ersatzgestell ab und sah wie blind in Hirschs Mittelformatkamera. Es wirkte so, als sehe sie durch ihn hindurch, an den Ort, wo sie ihre gestohlene Brille wiederzufinden hoffte. Zum ersten Mal verstand ich die Macht des Brillendiebs; was er seinen Opfern angetan hatte, wie groß das Grauen und die Verletzung sein mussten. Er hatte sie aus der Welt gestoßen.
    Hirsch drückte ab.
    Das zweite Opfer, das wir besuchten, war ein junger Mann, Mitte zwanzig. Er war nicht ganz so traumatisiert wie Frau Setagaya. Auch er war am Shinjuku-Bahnhof überfallen worden, wie ein Großteil der Opfer. Er war der, dem der Arm gebrochen worden war. Allerdings gab er zu, dass es sich eher um einen Unfall handelte als einen absichtlich tätlichen Angriff des Brillenmanns.
    »Als er sich meine Brille – ein sehr hübsches Modell von Armani übrigens – greifen wollte, schlug ich um mich und rutschte aus. Dabei stürzte ich so unglücklich auf den Ellenbogen, dass das Gelenk brach.«
    »Haben Sie den Mann gesehen?«
    »Nein. Ich weiß nur, dass er etwas Helles getragen haben muss; eine Jacke, ein Jackett. Ich sah es, weil ich beim Sturz versuchte, mich daran festzuhalten.«
    »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Ein Geräusch, Geruch, etwas in der Art?«
    »Jetzt, wo Sie’s sagen: Ich erinnere mich, dass er nach Ingwer roch.«
    »Ingwer?«
    »Ja. Nach dem Raspel-Ingwer, den Sie einem beim Sushi immer mit auf die Platte packen. Ich selber mag es nicht besonders.«

    »Sie waren essen, bevor Sie in den Zug steigen wollten?«
    »Ja, in einem kleinen Rotating-Sushi-Imbiss, zu dem ich gern gehe: Sushi Express, kennen Sie das? Kein schlechter Laden.«
    »Haben Sie eine Freundin?«
    »Nur eine? Sind Sie irre? Ich bin doch noch jung!«
    Etwas fiel dem Mann noch ein, bevor wir ihn verließen. Ein paar Minuten vor dem Angriff hätte er sich sehr unwohl gefühlt: »Beobachtet, wie ausgezogen. Als ob ein wirklich durstiger Vampir mich aussaugen wolle. Grässlich!«
    Opfer Nr. 3 war wieder eine Frau, eine sehr alte diesmal. Sie fiel etwas aus der Reihe, weil sie außerhalb der Shinjuku Station überfallen wurde, nicht drinnen wie die anderen. »Ich erschrak mich sehr und ließ leider auch das

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