Die Sache mit dem Ich
Burberry-Blouson zum Scheitel und wirkte insgesamt sehr britisch. Sein Akzent war fast so stark wie der von Prinz Charles.
»Well, well, well«, begrüßte er mich. »Wir machen also eine Reportage über einen supercrazy Brillendieb?«
»Ganz genau«, sagte ich.
»Und wie finden wir ihn? Geben wir eine Anzeige auf?«
»Wir gehen erst mal Brillen kaufen, dachte ich.«
»Exzellente Idee!«, sagte Hirsch. Das »exzellent« sprach er aus wie Peter Ustinov.
Der Brillenladen befand sich im Stadtteil Roppongi. Es war der beste Brillenladen Tokyos, ich hatte das extra recherchiert. Sie hatten alle Arten von Brillen da: Hornbrillen, Stahlbrillen, Eckbrillen, Rundbrillen, Designerbrillen, Stangenbrillen, Starbrillen, Sekretärinnenbrillen, Sonnenbrillen, Schutzbrillen, Fernbrillen, Nahbrillen. Es war ein Brillenparadies, genau der richtige Ort, um unsere Nachforschungen zu starten.
»Ich nehm’ die große braune hier!«, schrie Hirsch, nachdem er ein paar Modelle ausprobiert hatte. »Steht mir gut, finden Sie nicht?«
Die Fassung wirkte in seinem Gesicht wie ein Filzstift, der ihm immer wieder dicke Kreise um die Augen malte.
»Vielleicht etwas sehr Yves-Saint-Laurent-mäßig«, sagte ich.
»Also genau richtig!«, freute sich Hirsch. »Und Sie, was nehmen Sie?«
»Die schwarze hier.«
»Ah, Andy-Warhol-Style! Auch nicht schlecht. Spesen sind was Wunderbares, are they not?«
Dem musste ich zustimmen.
Ein paar Minuten später standen wir draußen auf der Straße, mit unseren Fensterglasbrillen auf der Nase. Es war früher Abend. Millionen von Japanern und Japanerinnen umfluteten uns. Sie kamen von der Arbeit oder waren auf dem Weg in Restaurants oder ins Kino. Einige von ihnen trugen Businesskostüme, andere nicht. Einige von ihnen trugen Brillen, andere nicht. Sicher war nur: Die Brillen, die wir aufhatten, waren von allen die größten. Von Gott aus gesehen, also vom schönen Himmel auf die zugebaute Erde runter, waren wir die zwei Typen mit Heiligenscheinen aus Plastik um unsere Köpfe. Wir sahen aus wie zwei Jim-Henson-Muppets.
»Und jetzt?«, fragte Hirsch.
»Jetzt warten wir«, sagte ich. »Der Köder ist gelegt, nun muss der Brillenhai nur noch anbeißen.«
»Frech!«, sagte Hirsch.
»Nicht wahr?«
Wir ließen uns mitziehen von dem Strom der Japaner um uns, wir trieben durch Roppongi, Harajuku und Shibuya, in U-Bahnen hinein und hinaus, auf Plätze und wieder hinunter, in Cafés hinein und hinaus, stundenlang. Vom Brillenmann war nichts zu sehen.
Irgendwann, es war schon spät, saßen wir in einer Bar, immer noch mit den Brillen auf der Nase, mit denen wir jeden Gast auffordernd anstarrten. Konnte ja sein, dass es sich um den Brillendieb handelte.
Nach dem dritten Gin Tonic sagte Hirsch laut, was schon seit einiger Zeit leise in uns gearbeitet hatte.
»Well, well, well. Ich weiß nicht, wie Sie sonst arbeiten, aber eventuell müssen wir unsere Taktik ändern.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Es reicht nicht, auf den Brillenmann nur zu warten. Wir müssen viel kriminologischer vorgehen, wie in ›Das Schweigen der Lämmer‹, kennen Sie dieses Werk der dramatischen Filmkunst?«
»Ja, Agent Starling.«
»Gut. Wir müssen uns also in den Brillenmann hineinversetzen – herauskriegen, was für ein Typ er ist. Stiehlt er für sich selbst oder für jemand anderen? Leidet er unter einem Trauma? Zieht ihn nur ein bestimmter Brillentyp an oder ist prinzipiell jedes Modell für ihn interessant? Spielt die Dioptrienstärke eine Rolle, der Hersteller? Die Details sind entscheidend. Haben Sie schon die Opfer kontaktiert?«
»Gleich morgen früh.«
»Exzellent, mein Freund. Trinken wir noch einen, danach geht jeder schlafen und stellt sich vorher noch mal genau den Brillendieb vor.«
So, wie der Fotograf es befohlen hatte, tat ich es später. Ich kroch neben Yasuko ins Bett, kniff meine Augen zusammen und dachte an den Brillenmann. Wo kam er her, wer war er? Trieb er sich jetzt gerade in der Stadt herum, fehlsichtig, auf der Suche nach Korrektur? Warum ging er nicht zum Arzt und ließ sich lasern? Fremde, seltsame, undurchsichtige Welt.
Früh am nächsten Nachmittag hatten wir das erste Treffen mit einem der Opfer. Ein Kollege bei der Japan Times hatte den Kontakt zu Naoko Setagaya hergestellt, einer vierzigjährigen Frau mit kurzem Haar. Sie lebte in einer 1,5-Zimmer-Wohnung in Yokohama und pendelte täglich mit dem Zug nach Tokyo, wo sie als Sekretärin einer Werbeagentur arbeitete. Es war zwei Wochen
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