Die Sache mit dem Ich
Dutzend Augenpaare starrte zu mir auf, alle mitderselben Frage: Was macht dieser junge Mann auf dem Postkasten?
Und auf einmal bekam ich Angst.
Das Kräfteverhältnis hatte sich geändert: War ich eben noch der Postkastenmann gewesen, der aus einer Position der Stärke und Erhabenheit heraus auf die anderen hinuntergeschaut hatte, war ich nun ein Postkastenmann, der von einem Kreis aufgebrachter und verwirrter Bürger umzingelt war, der von einem alten Mütterlein angeführt wurde. War ich eben noch der Sonnenkönig vor der Revolution gewesen, war ich nun der Sonnenkönig nach der Revolution.
Ein Gehenkter also.
Dann stand auch schon der Scharfrichter vor mir; ganz in Grün und mit einer weißen Mütze auf dem Kopf.
Nein – er stand eher unter mir.
»Schönen guten Tag«, begrüßte mich der Schutzmann mit in den Nacken geneigtem Kopf, sodass fast die Mütze herunterfiel.
»Guten Tag«, antwortete ich.
»Was machen Sie hier?«, fragte der Schutzmann.
»Ich sitze auf dem Postkasten«, antwortete ich.
»Das sehe ich. Mit welchem Grund, wenn ich fragen darf?«
»Kunstprojekt für die Universität«, antwortete ich.
»Haha«, machte der Schutzmann.
»Ich bin eine Absonderlichkeit des Alltags«, sagte ich.
»Runterkommen«, sagte der Schutzmann.
So stieg der Postkastenmann von seinem Thron, dem Postkasten – und wenn es auch kein Gebrüll von den Umstehenden gab, dann doch triumphierende Blicke und gegenseitiges Zunicken. »Recht so«, sagte das alte Mütterlein, als sie ihren Brief in den Schlitz warf; dann schlurfte sie einfach davon mit ihren Tüten und dem Stock, ohne mich noch mal anzusehen. Kurz darauf löste sich auch die Menge auf.
Der Postkastenmann war besiegt.
Auch ich schlurfte nach Hause, durch das schwächer werdende Licht; geschlagen, besiegt und den Kopf voller Fragen: Was hatte ich falsch gemacht während meiner Zeit als Postkastenmann, was hatte die anderen so sehr aufgebracht? Lag es an meiner exponierten Stellung, daran, dass ich ein wenig von oben herab geredet hatte? Lag es am Tropenhut oder an der Sonnenbrille? Oder lag es am Postkasten selbst, der irgendeinen unterbewussten Einfluss auf die Menschen ausübt, indem er uns daran erinnert, dass zur Kommunikation immer zwei gehören, deren Codes aufeinander abgestimmt und in jahrelanger Kleinarbeit mühsam erarbei...? Oder bringt ein Mann, der sich auf einem Postkasten ausruht, von vornherein alles durcheinander?
Keine Ahnung.
Mein Rücken schmerzte.
Aber alles in allem war es ein schöner Tag auf dem Postkasten.
[Menü]
Der Brillenmann
Es begann damit, dass in Tokyo ein Mann umging, der den Leuten die Brille von der Nase klaute. Er tauchte auf, scheinbar aus dem Nichts, schnappte sich die Brille, die er haben wollte, und verschwand wieder, so spurlos wie er gekommen war. Wenn alles glattging. Ließen sich die Menschen nicht so leicht von ihrer Brille trennen, schlug der Brillenmann sie auch mal. So jedenfalls erzählten es die Opfer, knapp zwanzig inzwischen. Einem war sogar der Arm gebrochen worden.
Ein deutsches Magazin wollte eine Geschichte darüber.
»Warum?«, fragte ich.
»Finden wir exotisch«, sagten sie. »Sagt etwas aus über den Zustand, in dem die Welt sich seit dem elften September befindet.«
»Ja?«
»Aber hallo! Siehst du die Metaphorik nicht? Es geht um Weltsicht und Wahrnehmung, um Blickwinkel und Perspektive. Es ist ganz großer Stoff!«
»Aber wie finde ich ihn? Kaum eins seiner Opfer hat ihn bislang richtig gesehen. Er kommt und greift zu wie ein Schatten aus der Menge, wie ein Meuchelmörder.«
»Sei halt ein bisschen investigativ.«
Der Fotograf, den sie mir schickten, kam extra aus Hamburg angereist. Sein Name war Enver Hirsch.
»Hirsch wie das Tier?«, fragte ich am Telefon.
»Und Enver wie der Diktator«, kam es zurück.
Da ich immer gern weiß, mit wem ich’s zu tun habe, holte ich ein paar Informationen über diesen Hirsch ein. Ich erfuhr, dass er gern tote Tiere fotografierte und gerade von einer Expedition auf eine Giftgasinsel zurückgekommen war. Dazu löste er sich einmal im Jahr in Luft auf und kam mit einem Riesenhaufen Fotos von Plastikpuppen zurück. Warum Puppen? Warum einmal im Jahr? Wo fand das statt? Seltsamer Typ.
Ein paar Tage später holte ich ihn vom Flughafen Narita ab. Er war, nun ja, eher mittelgroß und zog einen orangen Schalenkoffer hinter sich her, in den er dreimal reingepasst hätte. Seine Kamera war nur unwesentlich kleiner. Er trug einen roten
Weitere Kostenlose Bücher