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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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mich zu.
    Er hatte nicht viel in der Hand, nur ein kleines Kuvert, und als er sich dem Postkasten näherte, wie er es wohl immer tut, entschieden und mit großen Schritten, erschrak er plötzlich, als er vor mir stand.
    »Oh!«, machte er und sah zu mir herauf.
    »Was tun Sie denn hier?«
    »Ich sitze auf dem Postkasten und ruhe mich ein wenig aus«, antwortete ich.
    »Aha. Sitzen Sie schon lange hier?«
    Schweiß stand ihm auf der Stirn.
    Ich verstand den Sinn der Frage nicht ganz: Geht das Sitzen auf einem Postkasten erst ab einem bestimmten Zeitraum in Ordnung? Kann man zu lange auf einem Postkasten sitzen oder vielleicht auch: zu kurz, mit einem Mangel an Übung, der einen noch nicht qualifiziert?
    »Zehn Minuten etwa«, sagte ich und lächelte den Mann höflich an, der schnell und fast verschämt das Kuvert in den Briefschlitz unter mir steckte, sich dann sofort umdrehte und verschwand, als hätte er etwas Verbotenes getan. Als hätte er mich, den Postkastenmann, unsittlich berührt. Als würde der Postkastenmann homosexuelle Neigungen offenlegen.
    Was der Postkastenmann alles kann!, dachte ich und sah über die Menschen hinweg, die unter mir ihren Beschäftigungen nachgingen. Viel besser, als auf einem Hochhaus zu stehen – denn ein Postkastenmann ist trotz seines Abstands noch nah genug dran an den Menschen, um jede Regung mitzukriegen und ihnen in die verwirrten Augen zu blicken.
    Ein paar Minuten später fuhr auf dem Fahrrad eine der hübschen jungen Frauen im Minirock an mir vorbei. Sie hatte eine Kamera um den Hals hängen.
    Die Frau hielt, stieg vom Fahrrad, und fragte, ob sie mich vielleicht fotografieren dürfe.
    »Wofür denn?«, fragte ich.
    »Für ein Projekt an der Universität«, sagte sie und fing schon an zu knipsen.
    Zwei Minuten lang umrundete sie mich mit der Kamera, mich, den Mann auf dem Postkasten. Als sie mich aus allen Positionen fotografiert hatte, kniend, stehend und auf dem Boden liegend, bedankte sie sich und stieg wieder aufs Fahrrad.
    »Was kann man denn auf der Universität mit Fotos von einem Mann auf dem Postkasten anfangen?«, fragte ich sie.
    »Es ist ein Projekt über die Absonderlichkeiten des Alltags«, rief sie herüber, während sich im Wind der Anfahrt schon ihr Rock hob; dann war sie verschwunden.
    Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man bloß auf einem Postkasten sitzt.
    In der nächsten Stunde passierte gar nichts. Frieden kam über mich, auf dem Postkasten sitzend, und ich fragte mich: Gibt es sonst wo auf der Welt noch Menschen, die auf Postkästen sitzen, in Japan oder Brasilien zum Beispiel? Gibt es vielleicht sogar irgendeinen Wahnsinnigen, der tage- oder wochenlang auf einem Postkasten ausharrte und im Guinnessbuch der Rekorde steht?Oder bin ich der Erste, der es über eine Stunde lang auf einem Postkasten ausgehalten hat?
    Vielleicht, überlegte ich, gibt es auf dieser Welt doch noch Dinge, die ein Mensch zum ersten Mal tun kann.
    Dann geschah es.
    Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort stand und mich umrundete; gut möglich, dass sie schon seit einer Viertelstunde ihre Runden drehte wie ein Haifisch, der nicht weiß, ob er ein potenzielles Opfer oder einen potenziellen Feind vor sich hat.
    Jedenfalls stand sie da, die Alte mit den SPAR – Tüten und dem Stock, auf den sie sich stützte.
    Sie starrte mich an, Blitze kamen aus ihren Augen.
    »Was machen Sie dort?«, schrie sie auf einmal.
    »Ich bewache den Postkasten!«, rief ich zurück. Ich hielt das für einen guten Witz, doch die Frau erschrak so sehr, dass sie einen Satz zurück tat.
    »Sie müssen sich keine Sorgen machen!«, rief ich, um sie zu beruhigen: »Das ist eine ABM – Maßnahme, vom Arbeitsamt und der rot-grünen Regierung bezahlt!«
    Der Postkastenmann war gut in Form, wie ich fand.
    »Verschwinden Sie!«, brüllte die Alte nun. »Ich will einen Brief an meine Tochter einwerfen!«
    »Wohlan!«, rief ich zurück und tippte mit dem Finger an meinen Tropenhut. »Machen Sie nur – ich hindere Sie nicht!«
    »Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht verschwinden!«, schrie die Alte zurück.
    Sie war ganz offensichtlich eine Kämpferin.
    Inzwischen hatte sich etwas verändert auf dem Postkasten: Zuerst war es nur ein beklemmendes Gefühl, das in mir aufstieg, doch als ich zur Straße hinuntersah, bemerkte ich, was passiert war.
    Der Postkastenmann war umrundet von einer Menschenmenge.
    Die Alte und ich mussten sie durch unsere Schreie angelockt haben; etwa ein

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