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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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für mich, denn mein Vater, an den ich mich nur schwach erinnere, starb schon sehr früh an einem Schlaganfall. So gab es nur noch meinen Schweiß, den meine Mutter kontrollieren musste: Sie tat es, indem sie mich regelmäßig und mehrmals am Tag von allen Ausdünstungen reinigte, die mein Körper ausstieß – unter der Dusche, mit Cremes und Teebaumöl. Sie predigte mir, immer an ihren Nasenschock zu denken und an das Leid, das sie damals als junges Mädchen in dem Keller erdulden musste.
    ›Du willst doch nicht, dass es deiner Mutter schlecht geht, oder?‹
    Natürlich wollte ich das nicht.
    Trotzdem kam es im Lauf meiner Jugend öfters vor, dass ich die Schweißphobie meiner Mutter vergaß. Besonders im Sommer, wenn ich an einem warmen Tag mit meinen Freunden Fußball spielte, passierte es manchmal, dass ich mir keine Gedanken darüber machte, ob ich mein Hemd durchschwitzte oder nicht. Spätestens wenn ich nach Hause kam und meine Mutter sich fast über meine Turnschuhe übergab, fiel es mir wieder ein, und meine Mutter bestrafte mich jedes Mal für diesen Fehler, indem sie mich unter die Dusche stellte und abschrubbte, bis ich blutige Striemen an Rücken und Schultern hatte.
    Und da ich es irgendwann satthatte, mich von meiner Mutter gängelnzu lassen, gewöhnte ich mir das Schwitzen ganz ab. Ich mied alles, was mich würde schwitzen lassen:
    Ich mied direkte Sonneneinstrahlung und hielt mich nur noch im Schatten auf.
    Ich mied extreme Temperaturschwankungen und sorgte für wohltemperierte Räume in Sommer und Winter.
    Ich mied fette oder scharf gewürzte Speisen und wählte eher Margarine als Butter.
    Ich mied heftige oder unkontrollierte Bewegungen, die meine Körpertemperatur steigen lassen würden.
    Und so, schweißfrei und sauber«, schloss er seine Erzählung, »stehe ich nun vor Ihnen.«
    »Unglaubliche Geschichte«, sagte ich nach ein paar Minuten des Schweigens.
    Der Mann, der nicht schwitzte, sah mich an.
    »Was ist mit Sex?«, fragte ich.
    »Nur selten, und wenn, dann sehr gemächlich«, sagte der Mann, der nicht schwitzte.
    »Und beim Sport? Ich meine, Sie boxen, da ist es doch praktisch unmöglich, nicht auch nur das kleinste bisschen zu schwitz...«
    »Körperökonomie«, sagte er.
    »Was bitte?«, fragte ich.
    »Körperökonomie. Im Laufe der Jahre habe ich es durch Yoga und Entspannungsübungen geschafft, meinen Puls auf 50 Schläge pro Minute runterzubringen, selbst bei körperlicher Anstrengung. Ihnen ist doch bestimmt aufgefallen, dass ich beim Boxen immer nur kurz und kontrolliert angreife und mich zurückziehe, bevor die Anstrengung zu groß werden könnte, nicht wahr?«
    »Ist mir aufgefallen«, sagte ich.
    Und so, wie du boxt, lebst du auch, dachte ich.
    Er hatte recht, es gab keinen Zweifel: Es war ihm wirklich gelungen, die totale Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Er war ganz einfach der Mann, der nicht schwitzte. Der Saubermann.
    Ich verlor ihn dann aus den Augen. Ich heiratete und zog in eine andere Stadt, aber ganz vergessen konnte ich den Mann, der nicht schwitzte, nie: Wenn ich im Fernsehen eine Sportsendung sah, bei denen den Spielern Ströme von Schweiß aus den Haaren rannen, musste ich an ihn denken, und auch, wenn ich selber ins Schwitzen gekommen war und meine Frau mir sagte, ich könne mich mal wieder deodorieren. In diesen Momenten bewunderte ich den Mann, der nicht schwitzte. All diese Probleme hatte er nicht. Er ging durchs Leben in seinem eigenen Tempo, seinem eigenen Rhythmus, seiner eigenen, unveränderlichen Temperatur. Er war ein Eisblock, der selbst im Sommer nicht schmolz.
    Zwei oder drei Jahre nach unserem ersten Treffen hörte ich wieder von ihm. Ich war inzwischen in einen anderen Boxklub eingetreten, und es war mein neuer Sparringspartner Ben, der mir von ihm erzählte.
    »Ich kenne einen, der schwitzt nicht«, sagte Ben, als wir nach einem besonders anstrengenden Training unter der Dusche standen.»Ich auch«, sagte ich.
    Natürlich musste es derselbe sein, so viele Männer, die nicht schwitzten, gab es nicht, also fragte ich Ben, wie es dem Mann denn ginge.
    Was Ben erzählte, überraschte mich: Der Mann, der nicht schwitzte, hatte sich verliebt, in eine hübsche, etwas jüngere Frau, wie es hieß. Ich freute mich für ihn, denn vielleicht war es möglich, dass er sich von den Zwängen seiner Vergangenheit befreite. Vielleicht konnte ihn diese Frau davon überzeugen, dass es manchmal auch in Ordnung und eine Befreiung ist, wenn man schwitzt, und

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