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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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und machte keine Anstalten, unter die Dusche zu gehen.
    Offensichtlich hatte er sich nicht im Geringsten verausgabt.

    »Wie machen Sie das?«, fragte ich ihn.
    »Was bitte?«
    »Dass Sie nicht schwitzen?«
    »Oh, das«, sagte er. »Habe ich mir abgewöhnt.«
    Ich sah ihn an.
    »Und?«, fragte ich. »Wie ist Ihnen das gelungen?«
    »Ich habe einen Rhythmus gefunden, in dem sich ohne zu schwitzen leben lässt.«
    »Ah ja«, sagte ich und ging unter die Dusche.
    Zu Hause dachte ich nach über das, was der Mann gesagt hatte. Ich hatte Respekt vor ihm, vor seiner Körperleistung und Disziplin, denn auch ich bin kein großer Freund des Schwitzens, wer ist das schon? Trotzdem gingen mir ein paar Dinge nicht aus dem Kopf: Wenn wir schwitzen, tun wir das ja, weil das Leben besondere Anforderungen an uns stellt – ist es zu heiß, regulieren wir unsere Körpertemperatur über den Schweiß, und werden wir aus irgendeinem Grund nervös, aufgeregt oder haben Angst, schwitzen wir ebenfalls. Durch das Schwitzen lassen wir diese Gefühle aus unserem Körper heraus, durch das Schwitzen reinigen wir unseren Körper von diesen Gefühlen. So gesehen, ist Schweiß nichts anderes als ein Ausdruck für das Leben selbst – ist also ein Mann, der sich dem Schweiß verwehrt, vielleicht auch ein Mann, der sich dem Leben verwehrt?
    Als ich ihn das nächste Mal beim Boxen traf, lud ich ihn nach dem Training zu einem Drink in die kleine Bar des Klubs ein. Ich fragte ihn, warum er denn eigentlich so tunlichst darauf bedacht sei, nicht zu schwitzen.
    Es habe mit seiner Mutter zu tun, sagte er.
    »Sie wissen doch von den Bombenangriffen, die die Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf die deutschen Städte flogen, nicht wahr? Nun, eine dieser Städte war Dresden, und meine Mutter, die ausDresden kommt, verbrachte zu dieser Zeit fast jede Nacht im Luftschutzkeller.
    Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in einem Luftschutzkeller waren; sie sind generell nicht besonders groß, dieser Keller aber war noch ein gutes Stück kleiner als die normalen Luftschutzkeller. Er war klein, feucht und stickig, und wenn die Angriffe geflogen wurden und sich mit den anderen Mietern des Hauses bis zu hundert Leute in den Keller drängten, wurde er noch kleiner, feuchter und stickiger – und unerträglich heiß.
    Nun ist es so, dass meine Mutter immer schon eine sehr empfindliche Nase hatte: so empfindlich, dass sie den Beginn des Frühlings und das Sprießen der ersten Blüten schon im Winter riechen konnte. Manchmal, wenn sie sehr gut gelaunt war, sagte sie ihren Eltern Ende Februar voraus, wie die Erdbeersaison werden würde. Genauso gut wie sie die schönen Dinge auf große Entfernungen roch, roch sie natürlich auch die schlimmen Dinge. Den Geruch von Hundekot auf der Straße, zum Beispiel, spürte sie noch in der Nase, wenn sie schon drei Kreuzungen weiter war, und manchmal dauerte es Stunden, bis sie ihn wieder loswurde.
    Jedenfalls: Weil es so heiß war in dem Keller und sich so viele Leute darin befanden, die neben der Hitze auch noch die Angst um ihr Leben ertragen mussten, fingen diese Leute naturgemäß schon nach wenigen Minuten das Schwitzen an. Bei der empfindlichen Nase, die meine Mutter besaß, fällt es Ihnen sicher nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie auf das feuchte Gemisch von Salz, Harnstoff, Glucose und den diversen Aminosäuren, das aus den Schweißdrüsen der Kellerinsassen gepresst wurde, reagierte: Meine Mutter wurde fast ohnmächtig vor Abscheu und Ekel und übergab sich. Die Tatsache, dass sich bei jeder Bombe, die in der Nähe des Kellers niederging, einige der Leute in die Hosen machten, trug ebenfalls nicht dazu bei, dass die Nase meiner Mutter sich beruhigte, im Gegenteil.
    Natürlich sträubte sie sich schon beim nächsten Luftangriff derAlliierten mit Händen und Füßen dagegen, wieder in den Keller zu gehen. Sie schrie meine Großeltern an: Lieber wäre sie tot, als noch ein einziges Mal diesen Gestank zu ertragen! Doch weil meine Großeltern nur daran dachten, ihr einziges Kind vor den Bomben zu schützen, zwangen sie sie in den Keller, egal, wie oft sie sich übergeben würde.
    Und meine Mutter übergab sich jedes einzelne Mal.
    Es war zu dieser Zeit, dass meine Mutter das bekam, was sie später ihren ›Nasenschock‹ nennen sollte – die Unfähigkeit, für den Rest ihres Lebens auch nur die geringste Spur Schweiß zu riechen, ohne dass ihr schlecht wurde.
    Für meinen Vater wurde das später zu einem Problem, noch mehr aber

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