Die Sache mit dem Ich
bewegt, so lange hierzubleiben? Washat ihn an der Insel fasziniert, was hat er ihr hinterlassen? Das herauszufinden ist der Auftrag. Detektivarbeit.
Auf den ersten Blick ist es der denkbar einfachste Job, denn Hemingway ist auf Key West praktisch nicht zu entkommen. Das Erste, was sie dir mitgeben, wenn du in irgendein Hotel in der Simonton Street eincheckst, ist ein Stadtplan, auf dem der Weg zu dem Haus in der Whitehead Street verzeichnet ist, das Hemingway mit seiner Frau Pauline zehn Jahre lang bewohnte. Auf der Straße kommen dir Leute mit T-Shirts entgegen, auf denen Hemingways Gesicht abgebildet ist. »Key Wests berühmtester Sohn, 1899–1961« steht darunter, obwohl Hem ja aus Oak Park, Illinois stammt. Im Juli halten sie zu Hemingways Geburtstag sogar Lookalike-Wettbewerbe ab. Am Jachthafen liegen Schiffe, die entweder nach Hemingways Fischerboot Pilar benannt sind oder nach seinen anderen Frauen Hadley, Martha oder Mary. Gehst du nachts über die Hauptstraße Duval Street mit ihren Hunderten von Bars, Shops und Restaurants, unter denen mittlerweile auch Starbucks und ein Hard Rock Café zu finden sind, endest du an der Ecke Greene Street vor Sloppy Joe’s – der Bar von Hemingways Kumpel Joe »Sloppy« Russell. Der Bar, in der Hemingway jeden Tag trank und wo er sogar die Schecks für seine Romanvorschüsse einlösen konnte, nachdem die Bank nebenan ihn wegen seines Pennerlooks abgewiesen hatte. Der Bar, die heute wie an jedem Tag von Tausenden von Touristen bevölkert wird. Die Bar also, in die Julie, die mit ihren College-Freunden aus Massachusetts gerade zum jährlichen Spring Break hier ist, mich gerade schleppt.
»Was möchtet ihr trinken?«, fragt die Bedienung. Hinter ihrem Rücken sind eine Million Hemingwayfotos zu sehen: Hemingway beim Skifahren, Hemingway beim Fischen, Hemingway beim Boxen, Hemingway mit Pauline, Hemingway mit Sloppy Joe, Hemingway mit seiner sechspfotigen Katze.
Ich bin verwirrt. Wie soll ich unter all diesen Bildern den wahren Hemingway finden? Kann es sein, dass die Insel immer schon nur aus Hemingway bestand; dass sie eine literarische Erfindung ist? Besteht der Boden unter meinen Füßen aus Stein oder ist er ein Traum?
»Einen Erdbeermargarita, bitte«, sagt Julie.
»Einen Papa Doble«, sage ich. Papa Doble war damals Hemingways Lieblingsgetränk hier; ein Daiquiri aus drei Jahre altem Bacardi, Grapefruitsaft, Grenadine, Klubsoda und Limejuice.
»Prost«, sagt Julie und hebt ihren Hemingwaybecher.
»Prost«, sage ich, schließe die Augen, nehme einen großen Schluck und lasse die Süße des Hemingwaydrinks auf der Zunge zergehen. Und erinnere mich an das, was Joe, der Verkäufer in Hemingways ehemaligem Lieblingsbuchladen »Valladares«, mir am Nachmittag erzählt hat. Im Präsens, wie es sich für eine gute Geschichte gehört.
Als Hemingway und Pauline im April des Jahres 1928 auf Empfehlung des Schriftstellerkollegen John Dos Passos (»Manhattan Transfer«) zum ersten Mal herkommen, wollen sie eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Das Paar ist per Schiff über Marseille und Havanna in Key West angekommen, um ein Auto abzuholen, das ihnen Paulines reicher Onkel Gus geschenkt hat. Weil der Wagen noch nicht bereit ist, bringt der Händler die beiden in einem Apartment über seiner Garage unter, worüber der von der Reise erschöpfte Hemingway gar nicht erfreut ist.
Am nächsten Tag ändert sich das. Hemingway beginnt, über die kleine Insel zu wandern. Er genießt das tropische Klima, das ihm einen Grund gibt, in den Anglershorts und Segelschuhen herumzulaufen, die er so liebt; er betrachtet die Königspalmen, die sich sanft im Wind wiegen, und entdeckt, dass es vom Southernmost Point am Atlantik bis zum Mallory-Square am Golf von Mexiko nur eineinviertel Meilen sind, wenn man die Whitehead Street runterläuft. Als er zu dem damals noch sehr kleinen Hafen geht, kommengerade die Fischer mit ihren Fängen zurück. Sie haben Marlins und Schwertfische gefangen, Thunfische so groß wie Fahrräder und auch ein paar kleine Haie.
»Wann fährst du wieder raus?«, fragt er einen der Fischer. Sein Name ist George Brooks.
»Heute nicht mehr, aber ein Freund von mir vielleicht«, sagt George Brooks und schickt Hemingway zu einem gewissen Charles Thompson, dem auf der Insel einige Boote gehören.
Mit dreißig japanischen Touristen stehe ich am nächsten Tag in dem Wohnzimmer der zweistöckigen Villa, die Hemingway und Pauline 1930 bezogen. Die Einrichtung ist hübsch
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