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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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Raketen baumelten von der Decke, auf Tischen und Regalen standen Miniatur-Automodelle von Porsche, Lamborghini, Ferrari und Jaguar. Und obwohl er mit vierzehn noch keinen Motorrad-Führerschein machen durfte, hatte er sich schon einen Helm besorgt: einen roten, mit aufgemalten Brandspuren an den Seiten und verdunkeltem Klappvisor. Den setzte er manchmal auf, wenn wir in seinem Zimmer Atari-Autorennen spielten.
    Wie gesagt: All dies war lange vor dem ganzen Schumacher-Wahnsinn.
    Er war mein bester Freund damals, ein paar Jahre lang Mitte derAchtziger, und ich glaube, es lag daran, dass ich eben nicht so schnell war wie er: Während er schon wieder draußen auf der Straße war, um fahrende Autos mit Wasserbomben zu bewerfen, saß ich noch beim Mittagessen. Während er sich in der Stadt die neuesten, besten Platten kaufte, musste ich noch auf meine kleine Schwester aufpassen. Und während er abends im Kino saß und sich Horrorfilme ab 18 ansah, machte ich meine Schularbeiten.
    Auch was die Mädchen betraf, war er schneller als ich.
    Zu einer Zeit, als kurze Haare nicht gerade modern waren, rasierte er sich wegen des »geringeren Luftwiderstands« den Kopf mit dem Bartschneider – die Mädchen liebten es, ihm über die kleinen Stoppeln zu streichen. Zudem war er schlank wie ein Büßermönch, denn schlank war schnell und schnell war sexy für die Mädchen.
    Auch mit Worten konnte mein Freund beeindrucken; und vieles drückte er in Maßeinheiten aus: »Das Licht der Sonne braucht auf seinem Weg zur Erde siebeneinhalb Minuten«, erklärte er mir. »Immer noch sehr langsam, wenn man sich’s überlegt«, fügte er hinzu, so als habe er schon ein Konzept im Kopf, mit dem man die Lichtgeschwindigkeit verdoppeln könnte.
    So war er.
    Ich beneidete ihn sehr; so sehr, dass ich mich irgendwann von
    ihm zurückzog, weil ich in seiner Gegenwart noch langsamer wirkte, als ich ohnehin schon war.
    Ein Jahr später, an einem Freitagabend, stand er vor meiner Tür. Ich trug schon einen Schlafanzug, weil ich mich auf einen Abend mit dem »Alten«, der damals noch von Siegfried Lowitz gespielt wurde, gefreut hatte.
    »Hallo«, begrüßte er mich. Unterm Arm trug er den Motorradhelm, auf dem Gehweg stand ein altes Mofa. Er fragte, ob er mal kurz reinkommen könne, um sich zu verabschieden.
    »Um dich zu verabschieden?«
    Auf dem Plüschsofa meiner Eltern erklärte er mir bei einem Glas Wodka aus der Hausbar, dass er ein Mädchen namens Klara aus derOberstufe geschwängert habe; die Schule würden sie morgen verlassen. Er wollte sich einen Job am Hafen besorgen, sie irgendwo eine Ausbildung zur Sekretärin machen; eine gemeinsame Wohnung suchten sie schon, und wenn er alt genug sei, werde geheiratet, so er.
    Geschwindigkeit ist Effektivität, Geschwindigkeit ist Erfahrung.
    Irgendwas an seinen Augen irritierte mich.
    Zwei Monate später war Klara wieder auf der Schule, aber nur kurz, weil sie immer wieder rückfällig wurde und das Heroin und die Schwangerschaft ihren Körper so sehr belasteten, dass sie in der Mathestunde vom Stuhl rutschte und bewusstlos am Boden liegen blieb.
    Das Kind kam im Juli zur Welt, ein paar Wochen vor dem festgelegten Termin.
    Von meinem Freund habe ich nie wieder etwas gehört.
    So schnell war er.

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Spazierengehen mit T. C. Boyle
    Es ist sein Haus, so viel ist sicher. Es ist das sehr schöne 1909 von Frank Lloyd Wright aus rostrotem Redwood-Holz erbaute George- C.-Stewart-Haus in Montecito, Kalifornien, das nun von dem Schriftsteller T. C. Boyle bewohnt wird, mit dem ich verabredet bin.
    Aber es hat keine Tür.
    Jedenfalls keine, die man vom Zaun aus sehen kann.
    Und ohne Tür kommt man nirgends rein, n’est-ce pas?
    Ich hasse es, jetzt schon so anzufangen, aber es ist ein bisschen, als hätte er sich das ausgedacht. Ein Haus ohne Tür, das soll mir was sagen, das will was bedeuten im Freud-Jahr, das will ein ES – Haus sein oder ein ÜBER – Haus, das will, dass mir jetzt schon klar ist, dass es einen wirklichen Zugang zu seiner Schriftstellerseele im Gespräch niemals geben kann, das will das ganze Treffen hier mystisch aufladen und mir beweisen, wie clever und kreativ und irre er, der ...
    »Mr. Fischer, nehme ich an?«
    »Oh. Mr. Boyle, nehme ich an?«
    Ich weiß nicht, wo er herkommt, aber er steht vor mir, und zwar GENAU so, wie ich ihn mir vorgestellt habe, genau so, wie er seit dreißig Jahren immer abgebildet ist, und das ist viel seltsamer, als wenn er anders ausgesehen hätte. Er, lang und

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