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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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etwas zu essen, vielleicht eine Zeitung, mal sehen, was sie hier haben. Gleich. Aber erst sehe ich noch ein paar Minuten der Welt zu, wie sie versucht, mit ihren bleichen Spinnenfingern durchs Zimmer zu kriechen, zu mir, genauso Geist wie alle anderen.

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Marilyn Manson live in Tokyo
    Manchmal in der Zeit unseres Zusammenlebens geschah es, dass Yasuko mit Geschichten zu mir kam, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie sich diese Geschichten nicht bloß ausgedacht hat – entweder, weil sie sich mit mir langweilte, oder weil sie das Gefühl hatte, mich unterhalten zu müssen.
    Eines Nachts, ich schlief schon fest, rüttelten mich ihre kleinen Hände wach.
    »Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist«, sagte sie.
    »Aha?«, sagte ich und rieb mir die Augen.
    »Du weißt doch noch, dass ich zu Seibu nach Shibuya wollte, um mir ein Kleid für den Abend bei Kagami-San und seiner Frau zu kaufen, nicht wahr? Also: Als ich dort ankam, mit der Rolltreppe in den dritten Stock zur Damenabteilung fuhr und mir gerade ein wirklich sehr hübsches Comme-des-Garçons-Kleid vom Ständer nahm, das ich in der Umkleidekabine probieren wollte – wer kam mir da entgegen? Meine alte Schulfreundin Hiroko!«
    »Wahnsinn«, sagte ich. »Yasuko, meinst du nicht, dass du mir das eventuell morgen erzählen könntest? Ich bin sehr müde und muss ganz früh in der Redaktion erschei...«
    Sie hörte gar nicht hin.
    »›Hiroko!‹, schrie ich, und ›Yasuko!‹, schrie sie«, sagte Yasuko. »›Was machst du denn hier? Ich dachte du wärst Lehrerin in Kyoto?‹ fragte ich. ›Oh, das ist lange her‹, sagte Hiroko, ›inzwischen habe ich geheiratet, ein Kind bekommen, bin umgezogen, habenoch ein Kind bekommen und das Lehrersein gegen einen exzellent bezahlten Marketingjob in der Abteilung für internationale Musik bei Sony Columbia eingetauscht.‹
    ›Nein so was!‹, sagte ich«, sagte Yasuko. »›Und was genau arbeitest du, um wen kümmerst du dich?‹
    ›Das wirst du mir nicht glauben‹, sagte Hiroko.
    ›Sag’ schon‹, sagte ich.
    ›Rate!‹, sagte Hiroko.
    ›Britney Spears?‹
    ›Nein‹, sagte Hiroko.
    ›Die Rolling Stones?‹
    ›Ach was‹, sagte Hiroko.
    ›Hilf mir‹, sagte ich.
    ›Rate weiter‹, sagte Hiroko.
    ›Michael Jackson?‹
    ›So ähnlich‹, sagte Hiroko.
    ›Marilyn Manson?‹
    ›Genau!‹, sagte Hiroko.
    ›Unglaublich‹, sagte ich«, sagte Yasuko: »›Marilyn Manson! Der Schockrocker mit dem weiß geschminkten Gesicht und den blind machenden Kontaktlinsen? Der Krawallmacher, der von sich behauptet, er vereine alles Teuflische und alles Himmlische Amerikas in einer Person? Der Antichristchrist?‹
    ›Genau der‹, sagte Hiroko. ›Und weißt du, was das Tollste ist?‹
    ›Nein‹, sagte ich.
    ›Er spielt heute Abend im Stadion von Yokohama. Möchtest du mitkommen und mit mir auf die alten Zeiten anstoßen? Möchtest du die größte Rockshow deines Lebens erleben?‹
    ›Natürlich!‹, sagte ich«, sagte Yasuko.
    Und, wieder zu mir gewandt:
    »Ein Konzert von Marilyn Manson – so was hast du noch nicht gesehen! Mickymäuse in Naziuniformen tanzten mit strumpfmaskentragenden Lackfetischistengitarristen, alles war unglaublich laut, und dazwischen, immer wieder: Marilyn Manson, wie er eine Gans rupft, Marilyn Manson, wie er ein Schwein schlitzt, Marilyn Manson, wie er eine Jungfrau entjungfert, und Marilyn Manson, wie er alle Präsidenten der USA mit der Schrotflinte niedermäht. Und überall Blut, Schweiß, Gedärme, Innereien und ungebratene Rindersteaks!«
    »Wow!«, sagte ich.
    »Das aber«, ließ Yasuko mich nicht im Geringsten zu Wort kommen, »war noch nicht alles.
    Danach hat Hiroko mich nämlich in den Backstagebereich eingeladen. Backstage, du verstehst? Dahin, wo sich nach dem Konzert nur die Firmenchefs, Manager, Groupies, Fans und Cateringleute aufhalten dürfen. Und weißt du, was da passiert ist?«
    »Nein«, sagte ich, schrie ich fast.
    »Marilyn Manson hat mich, deine kleine Yasuko, die noch nicht wirklich erfolgreiche, aber immerhin aufstrebende Nachwuchsgaleristin aus Ebisu, gefragt, wie mir das Konzert gefallen hat! Wie MIR sein Konzert gefallen hat!«
    »Und? Was hast du geantwortet?«
    »Die Wahrheit natürlich! Dass ich es eklig fand – widerwärtig, abstoßend, übelkeitserregend, menschenfeindlich und über alle Maßen unangenehm. Und weißt du, was er darauf gesagt hat?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Danke!«, sagte Yasuko. »Marilyn Manson hat gelächelt

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