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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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und sich bei mir bedankt. Ist das nicht toll, ist das nicht einfach wunderbar?«

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Die Sache mit den Rolling Stones
    Warum es die Rolling Stones nach 46 Jahren noch gibt?
    Weil sie gegeneinander flirten.
    Mick macht’s mit den Augen.
    Charlie macht’s mit dem Mund.
    Keith macht Witze über seine morschen Knochen.
    Und Ron bietet dir seine Zigarette an.
    Das sind ihre Tricks. Jeder will der Beste sein. So einfach ist das.
    Aber der Reihe nach.
    Sie waren am Vortag angekommen. Berlinale-Chef Kosslick hatte sie eingeladen, auf der Festival-Eröffnung ihren Konzertfilm »Shine a Light« zu präsentieren. Aber um den Film ging es eigentlich nur am Rande, auch wenn Martin Scorsese ihn gedreht hat. Im Wesentlichen ging’s darum, dass sie da waren. Weil auch der Rest der Welt kommt, wenn die Rolling Stones kommen. Weil auch der Rest der Welt hinsieht, wenn sie hier sind. Weil links und rechts vom roten Teppich Fans stehen, die 400 Euro für ein Schwarzmarktticket bezahlen, das es ihnen ermöglicht, mit Mick, Keith, Ron und Charlie in einem Saal zu sitzen und sich einen Film anzusehen, in dem Mick, Keith, Ron und Charlie Musik machen. Weil es nach wie vor so ist, dass die Nachricht »Die Stones lösen sich auf« weltpolitisch nur von den Schlagzeilen »Hitler lebt!« oder »Nordkorea beginnt den Dritten Weltkrieg« verdrängt würde.
    Sie sahen gut aus, als sie die Bühne des Berlinale-Palasts betraten. Sie haben Gesichter wie Rhesus-Affen, aber sie sind die dünnsteBand der Welt. Man hatte ja viel gehört vorher. Bei Charlie Watts war vor ein paar Jahren Lungenkrebs diagnostiziert worden. Keith Richards war von einem Gummibaum gefallen und hatte sich fast das Hirn zertrümmert. Er fällt andauernd irgendwohin oder runter. Bei Ron Wood war sich keiner sicher, ob er wieder trinkt. Bloß um Mick machte sich niemand Sorgen. Um ihn macht sich eigentlich nie einer Sorgen. Weil ihm sein Aussehen immer wichtiger war als der Rausch. Weil ihm das Geld immer wichtiger war. Weil ihm die Frauen immer wichtiger waren – im Augenblick L’Wren Scott, Exmodel. Oder? So genau weiß man es nie.
    Scorsese fuchtelte wild auf der Bühne herum, bevor es losging. Er ist völlig verrückt. In der Sprache seiner Generation sagte Kosslick »Let’s rock!«.
    Es war komisch, diesen Film zu sehen. Obwohl er zwei Konzerte aus dem Jahr 2006 zeigt, wirkt er schon jetzt wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Es beginnt beim Belle-Epoque-artigen Bühnenaufbau im Beacon Theatre, New York, und endet bei den Kostümen noch lange nicht. Jagger trägt ein Glitzer-T-Shirt, Richards hat Tücher auf dem Kopf, Woods hat eine Rod-Stewart-Frisur und Watts sieht aus wie eine Comicfigur. Sind wir in den Siebzigern, den Achtzigern, den Neunzigern? Die Musik, die sie machen, würde sich heute keine andere Band mehr ausdenken: eine Mischung aus Blues und Rock und Gospel. Bill und Hillary Clinton, die in »Shine a Light« dabei sind, scheint’s zu gefallen. Wird es Hillarys Präsidentschaftskandidatur helfen, wenn der Film Anfang April anläuft?
    Die Rolling Stones sind die dünnste und älteste und seltsamste Band der Welt. Sie haben 38 Platten rausgebracht, sind insgesamt 254 Jahre alt, jeder von ihnen hat im Schnitt 3,75 Kinder – doch sollte es Scorseses Ziel gewesen sein, sie uns näherzubringen, ist das misslungen. Viel eher zeigt er, wie fern sie uns sind. Wie analog. Nicht umsonst hat sich Johnny Depp seinen Freund Keith Richards als Vorbild für einen Disney-Themenpark-Piraten aus dem Jahr1589 genommen. Nicht umsonst verglich Richards Jagger schon oft mit dem Fantasy-Helden Peter Pan. Die Stones sind ein sterbendes Tier, wie die Riesenschildkröte Lonesome George auf den Galapagosinseln, das letzte Exemplar ihrer Art. Die Stones sterben seit 46 Jahren und lassen uns dabei sein. Sie sind die »Truman Show« des Rock. Das macht sie so einzigartig und gibt ihnen die Macht, eine Berlinale zu eröffnen oder sich von Martin Scorsese filmen zu lassen. Auch wenn Jagger sich Mühe gibt, so zu tun, als sei es nicht seine, sondern Scorseses Idee gewesen.
    Später streiten die Premierengäste darüber, wie’s war. Wer über 45 ist, fand’s gut und redet vom »wahren Geist des Rock ’n’ Roll«, den er gesehen habe. Wer unter 45 ist, findet »Shine a Light« zu lang, zu undokumentarisch und banal geschnitten. Unwahrscheinlich, dass der Film länger als zwei Wochen im Kino läuft, aber als DVD wird er sich gut verkaufen.
    Tags darauf sitzen zehn

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