Die Sache mit dem Ich
Namen, ihrer Sozialversicherungsnummer, ihren Kreditkarten. »Identitätsdiebstahl« ist seit Kurzem der Begriff dafür. Zusammen mit ihrem Freund Bridger macht sich Dana auf, den Jungen zu suchen.
»Folgen Sie mir«, sagt Boyle. »Ich zeige Ihnen den Garten.«
Irre ich mich, oder trug er die Wanderschuhe eben auch schon? Ich könnte schwören, er hätte gerade noch rotschwarze Nike-Basketballschuhe angehabt. Fremde, seltsame Welt.
Auf den ersten Blick sah es gar nicht so aus, aber der Garten ist ein Dschungel. Sobald wir ihn betreten, verschluckt er uns. Eukalyptus, Olivenhaine, Bougainvilleen, Palmen und irgendwelches Gestrüpp, das auch er nicht näher spezifizieren kann. Plötzlich Zwielicht, obwohl es erst vier Uhr nachmittags ist. Vietnamgefühle. Ein Ast schlägt mir ins Gesicht.
»Offensichtlich bevorzugen Sie Wildwuchs, Mr. Boyle?«
»Unbedingt. Domestizierte Gärten sind die Pest. Wir sollten die Welt nicht zu sehr domestizieren. Tut weder uns noch der Welt gut.«
»Freicamper, der Herr?«
»Sehr. Manchmal schlaf ich auch auf dem Balkon neben meinem Arbeitszimmer. Da bin ich dem Frank Lloyd Wright sehr dankbar, dass er praktisch schon achtzig Jahre im Voraus an mich gedacht hat.«
»Grüner Daumen?«
»Meine Frau meint, ich hätte ein gewisses Talent, ja. Aber wissen Sie, wie ich’s mache? Ich kaufe im Pflanzenladen ein paar Samen und streue sie irgendwo hier aus.«
Inzwischen ist das Licht völlig verschwunden. Gefällt mir, ehrlich gesagt, nicht. Wird es gleich Blut regnen wie in seiner Geschichte »Bloodfall«?
»Mr. Boyle?«
Keine Antwort.
» MR. BOYLE ?!?!«
Eine Stimme von irgendwoher: »Wo sind Sie denn, verdammt?«
»Zwischen der Palme und dem, äh, Busch!«
Das Gestrüpp teilt sich. Ein Boyle erscheint, er packt mich am Arm, zieht mich ins Dunkel. Ich denke gerade an die Welt aus »Grün ist die Hoffnung«, da wird mein Fuß nass und von irgendeiner Kraft nach unten gezogen.
»Ich glaube, ich versinke, Mr. Boyle.«
»Oh, dann stehen Sie wohl im Teich. Den habe ich selbst angebaut. Sind sogar Fische drin.«
Rascheln im Gebüsch, obwohl sich keiner von uns bewegt hat.
»Was war das, Mr. Boyle?«
»Bär oder Waschbär, weiß nicht so genau. Vielleicht sollten Sie vorsichtshalber stillhalten.«
» BÄR? HIER? IN MONTECITO, DEM REICHSTEN DORF AMERIKAS? BEI OPRAH IN DER NACHBARSCHAFT ?«
»Wir sind in Kalifornien, Junge. Manchmal kommen ein paar von ihnen aus den Bergen zu uns runter. Sie lieben das Klima. Und die Mülltonnen, die wir ab und zu vergessen zuzumachen, natürlich. Erst vor ein paar Tagen, es war noch früh ...«
»Können wir den Garten verlassen, bitte? Jetzt?«
»Angst?«
»Ja.«
Zwei Schritte nach rechts, Licht, Licht, Licht, und wir stehen vor einer Hütte.
»Voilà, das Gästehaus! Nehmen Sie auf der Veranda Platz, ich hole so lange den Wein. Ein 2003er Sanford Chardonnay ist genehm?«
»Durchaus.«
Sosehr ich mich auch drehe und wende, vom Haupthaus, von der Frank-Lloyd-Wright-Villa, ist nichts zu sehen. Verschluckt? Das Gästehaus hingegen könnte genauso an der Baumgrenze der Rocky Mountains herumstehen. Zeitgefühl: Frühes 20. Jahrhundert, die Zeit von »Riven Rock«. Langsam verstehe ich, was Boyle mir zeigen, beweisen will.
Der Wein ist sehr gut. Ich werde morgen zehn Flaschen davon kaufen. Überhaupt ist es sehr gut in Kalifornien, das nur am Rande.
»Sie haben wirklich ein großes Grundstück, Mr. Boyle.«
»Es wirkt viel größer, als es ist. Ich habe Sie ein bisschen im Kreis rumgeführt. Die Größe aber ist nicht entscheidend.«
»Sondern?«
»Es kommt nicht darauf an, wo man wie ist und wie groß oder klein etwas ist. Es kommt nur darauf an, wie man etwas macht.
Es ist wie in der Literatur. Wollen Sie eine 20-Seiten-Geschichte oder eine, die 450 Seiten lang ist? Man muss die Tricks und Wege kennen, etwas so wirken zu lassen, wie man will, dass es wirkt. Jeder Text muss hinüberführen in eine andere Welt.«
»Erzählen Sie das auch Ihren Studenten?« Er ist Dozent für Creative Writing an der University of Southern California.
»Ich sage: Gebt mir einen ersten Satz, und ich sage euch, ob ich den zweiten auch noch lesen will.«
»Einen schönen ersten Satz, bitte!«
»‹Bill und Arlene Miller waren ein glückliches Paar.«
»Cheever? Chaucer? Hemingway?«
»Wollen Sie mich verarschen? Der große Ray Carver!«
»Noch einen, bitte.«
»›Es war jetzt Essenszeit, und sie saßen alle unter dem doppelten grünen Sonnendach des
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