Die Sache mit dem Ich
Speisezeltes und taten, als sei nichts passiert.‹«
»Jetzt aber – Hemingway! ›Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber‹?«
»Habe ich für Sie getan.«
»Warum hassen Sie Hemingway so sehr?«
»Bitte?«
»Ab und zu machen Sie sich über ihn lustig, besonders in Ihren Kurzgeschichten.«
»Das stimmt, aber ich hasse ihn nicht. Ich schätze ihn sogar dafür, dass er die Literatur so vom Stuck befreit hat, wie es der Punk mit dem Siebziger-Rock gemacht hat. Ich glaube nur, dass sein Schriftsteller-Prinzip ›Bereise die Welt und töte alles, was dir vor die Flinte kommt‹ heute, wo so viele Lebewesen bedroht sind, etwas modifiziert werden muss.«
»Was ist das Schriftsteller-Prinzip von heute?«
»Bereise die Welt und umarme einen Baum.«
Dass er grüner ist als Claudia Roth, zeigte er auch in dem Buch »Ein Freund der Erde«. Würden wir Claudia Roth befragen, würde sie sagen, sie sei ein ›sehr großer Fan‹, jede Wette.
»Wie kamen Sie auf die Idee mit dem Identitätsdiebstahl?«
»Es ist überall, man muss nur die Augen aufmachen: In den Zeitungen, im Fernsehen. Freunde redeten darüber, denen es passiert ist.«
Stimmt tatsächlich. Ist sogar mir mal passiert, dass irgendein Vogel meine Kreditkarte klaute und für 12000 Euro auf Sylt Juwelen shoppen ging. Und als ich vorhin herfuhr, kam sogar im Autoradio was drüber, in einer dieser Talksendungen:
Gast: »Was kann man tun, damit kein Mensch auf meine Rechnung lebt, ohne dass ich was davon mitkriege?«
Moderator: »Sammeln Sie Ihre Belege und Ausdrucke. Vernichten Sie sie, wenn Sie sie wegwerfen, damit sich keiner die Nummern abschreiben kann. Kontrollieren Sie sie immer.«
Gast: »Sonst kann ich nichts machen?«
Moderator: »Doch. Kündigen Sie Ihr Konto, leben wie im Jahr 1874 und fangen wieder damit an, Ihre Rechnungen in bar zu zahlen. Das wäre das Ende der Banken, insofern eigentlich gar nicht so uninteressant.«
»Warum musste es eine Gehörlose als Protagonistin sein?«
»Ein Freund von mir, Zahnarzt und Single, und ich gingen während meiner Recherchen was trinken, da erzählte er mir von dieser wunderschönen Frau, die zu ihm in die Praxis kam. Er war sofort verliebt, doch als er sie fragen wollte, ob sie mal mit ihm ausgehe, kam keine Antwort. Stattdessen gebärdete sie etwas, was er nicht verstand.«
»Wahre Geschichte?«
»Aber ja. Ich hatte eine Protagonistin für meinen Roman und machte mich an die Arbeit, besuchte ein Taubstummen-College etc.«
»Wo ist die Frau heute?«
»Was weiß denn ich?«
Das Surreale fußt im Realen und umgekehrt, sagte Borges mal, der kluge Fuchs.
»Warum sehen Sie so aus, wie Sie aussehen, Mr. Boyle?«
»Es ist der tief empfundene Ausdruck meiner Individualität.«
»Sind Sie eher Punk oder Hippie?« Solche Fragen hasst er, das ist klar.
»Ich bin ich.« Solche Antworten hasse ich, das ist klar.
»Was ist das Schlimmste an den USA ?«
»George W. Bush und Menschen, die während des Autofahrens telefonieren.«
»Darf ich jetzt das Haus sehen? Das Haus, das keine Türen hat?«
»Jeder will das Haus sehen. Warum eigentlich?«
»Man verspricht sich Antworten auf die Fragen, die man hat. Man hofft, dass die Gegenstände zu einem sprechen. Außerdem ist es eine Designerhütte.«
Wieder ein langer Blick aus dunklen Boyleaugen. Und ein kleines Lächeln. Sind Ironie und Sarkasmus dasselbe?
Zwei Minuten später befinden wir uns unter einer Freeway-Unterführung. Etwa 123446448 Autos fahren pro Sekunde über uns hinweg und klingen wie 43538339 startende Flugzeuge. Von irgendwoher meine ich, die Brücke zu kennen, nur woher fällt mir grad nicht ein.
» UND DAS IST WIRKLICH DER WEG ZURÜCK ZU IHREM HAUS? «, brülle ich. » ICH ERINNERE MICH GAR NICHT, DASS WIR DIESEN WEG GEKOMMEN SIND .«
» DOCH, DOCH! «, brüllt Boyle zurück. » SICHER, KUMPEL! «
Auf einmal ist da ein Strand.
»Butterfly Beach«, sagt Boyle. »Sie erinnern sich an den Monarchen von vorhin. Sein Strand.«
Es ist wirklich ein sehr schöner Strand. ›Drop City‹, denke ich, den kennst du aus ›Drop City‹. Oder doch aus ›Riven Rock‹? Oder einer Kurzgeschichte aus ›Schluss mit cool‹?
»Das Traurigste an Amerika ist, dass keiner mehr liest«, sagt Boyle mit Blick zum Horizont. »Der Niedergang unserer Kultur ist unaufhaltsam. Gestern hörte ich im Radio einen zukünftigen Bewerber ums Gouverneursamt sprechen. Er hatte zehn Minuten Zeit. Zehn Minuten sind eine Menge. In zehn Minuten können Sie
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