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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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und genau dieser Egoismus und die Selbstgerechtigkeit waren unerträglich. Und, ich sag’s noch mal: stillos, bis zum Ende. Mord sieht einfach scheiße aus.
    Trotzdem gibt es eine einzige tiefe Gemeinsamkeit zwischen Baader, Ensslin und mir, die nicht wegzuleugnen ist: »Moby Dick«. Der Roman, das ist in Stefan Austs »Baader-Meinhof-Komplex« sehr schön nachzulesen, war auch das Lieblingsbuch von Baader und Ensslin. Mein Vater, der Polizist, hatte also denselben Buchgeschmack wie seine Feinde, die Terroristen.
    Ensslin hatte ihren Kollegen Namen aus dem Roman gegeben: Baader war natürlich der irre Käpt’n Ahab, Holger Meins der Steuermann Starbuck, Raspe war Zimmermann, Gerhard Müller der Harpunier Queequeg, und Ensslin selbst war Smutje, der Koch. Finde ich niedlich, dass Ensslin sich nur zum Koch machte, allerdings fand Ulrike Meinhof es wohl nicht so niedlich, denn sie bekam kein Pseudonym, weil sie das Buch nicht gelesen hatte. Aber Meinhof wurde von den anderen ja öfter mit Missachtung gestraft.
    Vielleicht, denke ich manchmal, ging es der RAF nur um den weißen Wal; vielleicht war Deutschland das mythische Tier, das es zu erlegen galt, das Tier, das irgendwann nur noch als Projektionsfläche für den Hass und eine düstere Romantik herhalten musste, und vielleicht hat die Jagd nach diesem Tier Baader und Ensslin genauso wahnsinnig gemacht wie Käpt’n Ahab.
    Über all das hätte ich gern mal mit den beiden geredet, am liebsten als Rollenspiel: Andreas als Ahab, Gudrun als Smutje und ich als Ismael. Und wenn ich damals, vor 30 Jahren, das Ende der Geschichte erfahren hätte, würden sie heute alle noch leben.

[Menü]
O. K., Karaoke!
    Es ist die alte Geschichte von Versuchung und Strafe: Eva hätte sich damals im Paradies den Apfel verkneifen sollen, um uns allen einen Haufen Ärger zu ersparen; George W. Bush hätte Saddam Hussein einen guten Mann sein lassen können; und Samuel und ich hätten in der japanischen Stadt Kobe nicht unbedingt in den Partykeller des Karaokeklubs U-BOU gehen müssen. Aber was willst du machen, wenn von dort die irrste Version von » YMCA « durch die Tür dringt, die du je gehört hast?
    Ein vielstimmiges Inferno ergießt sich aus dem Raum, ein atonaler Kanon, ein Free Jazz des Harmoniegesangs, und als die Tür aufgeht und uns einer der Jungs hereinlässt, ist es schon zu spät: Irgendjemand drückt mir ein Mikrofon in die Hand, schiebt mich auf die Bühne, macht an einer Fernbedienung herum. Vierzig Geschäftsmänner, berauscht, begeistert, betrunken allesamt, grölen:
    » SING! SING! SING! «
    » SING WAS? «, brülle ich zurück.
    » SING AEROSMITH, GAIJIN-SAN! I DON’T WANNA MISS A THING! «
    Ein Gaijin-San, das muss erklärt werden, ist ein Typ wie ich: weiß, Europäer, maximal vier Wörter Japanisch, im Zweifelsfall Aerosmith-Fan. Ein Fremder wie aus einem Buch von Camus.
    Aber warum beschwer’ ich mich? Auf genau diese Situation hatte die ganze Sache hinauslaufen müssen, diese Suche nach dem Geheimnis des Karaoke, auf die Samuel und ich uns gemacht hatten.

    Es begann in Tokyo. Mit ein paar Freunden saßen wir in einer Bar herum, tranken, redeten, und als es nicht mehr viel zu reden, aber immer noch viel zu trinken gab, schlug einer vor, es war der liebe Aono Toshimitsu, nun Karaoke singen zu gehen.
    »Och nö«, sagte ich.
    »Warum nicht?«, fragte Aono.
    »Weil Karaoke das Ende ist. Ich versteh’ wirklich nicht, was das Tolle daran sein soll, und warum Millionen Japaner sich nichts Besseres vorstellen können. Ein geschlossener Raum, ein paar betrunkene Jungs, die zu Oasis und Elvis Presley schlecht Playback singen. Geht’s weniger sexy? Geht’s trauriger, deprimierender?«
    »Wer so redet, weiß weder was vom Karaoke noch von Japan«, sagte Aono.
    »Dann zeig’s mir doch, Experte!«
    »Gut«, sagte Aono. »Aber nicht hier. Ihr werdet nach Kobe fahren, wo Karaoke vor über dreißig Jahren geboren wurde und von wo aus es einen Siegeszug durch die Welt nahm, der nur mit Jogging, Pizza oder dem iPhone zu vergleichen ist.«
    Gleich am nächsten Tag nahmen der gute alte Samuel, den ich von nun an nur noch Sam Gamdschie nennen werde (weil er mein treuer Gefährte ist, wie Frodos Begleiter in »Der Herr der Ringe«), den Shinkansen-Schnellzug und ließen uns mit 275 km/h durch Raum und Zeit nach Kobe schießen. Aono selbst, vielbeschäftigter als Papst und Franz Müntefering zusammen, kam nicht mit. »Trotzdem werde ich irgendwie dabei sein«, orakelte er in der

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