Die Sache mit dem Ich
den Thermalquellen zu schwitzen – und, so gestärkt, am Sonntagabend wieder in ihre 40-qm-Wohnungen in Yokohama zurückzukehren und die Klimaanlage hochzudrehen. In Ito war es auch, wo ich mich in Yasuko verliebte, eine junge Perückendesignerin aus Sapporo, die ich beim Ausdampfen im wunderschönen Ziergarten des Yonewaka-So Hotels kennenlernte. Doch weil Yasuko bald einen ihrer Kunden heiraten wird, blieb uns nicht mehr als gemeinsames Teetrinken. Auch darum wurden meine Beschwerden immer schlimmer – bis ich Kitazawa-San kennenlernte, denn er war ebenfalls auf der Suche nach Heilung.
»Nach seelischer Heilung«, wie er sagte.
Kurz war ich versucht, ihn zu fragen, was er Schlimmes getan habe in seinem Leben, doch als ich ihn genauer ansah, entschied ich mich dagegen. Es ist vielleicht ganz gut, nicht genau zu wissen, was die Tätowierungen bedeuten und wo all die Narben herkommen, dachte ich, und über die Fingerkuppen möchte ich erst recht nichts herausfinden.
Eine gute Entscheidung, denn schnell stellte sich heraus, dass Kitazawa ein Badeprofiwar, und zwar der beste, den ich bislang kennenlernte: Seit vier Monaten war er schon auf der Reise durchs Land, von Hokkaido aus hat er sich heruntergearbeitet über die Quellen von Nikko und die Schlammbäder von Renge, und, soKitazawa, was seinen Heilungsprozess betrifft, macht er gute Fortschritte – sogar sein Bandwurm sei geschrumpft.
Es stellte sich ebenfalls heraus, dass ich mit meiner Baderei bislang ziemlich viel falsch gemacht hatte.
Und so verriet Kitazawa mir am nächsten Tag in den dampfenden Quellen zwischen Beppu und Oita das Geheimnis des Badens.
Es war die Sonnengöttin Amaterasu, die vor Millionen von Jahren die heißen Quellen geschaffen hatte, um Menschen und Tiere zu heilen, so Kitazawa, während wir mit seinem Wagen durch eine Hügellandschaft aus tiefstem Grün fuhren. Darum sei es wichtig, jedes Bad mit großer Ruhe zu beginnen, und immer zuerst mit einer Waschung, um die Götter nicht mit Körperdreck zu beleidigen. Die meisten Europäer stürzen sich einfach so in eine Fünfzig-Grad-Brühe und wundern sich darüber, dass ihr Schnupfen nicht weggeht und das Rheuma sogar noch schlimmer wird – für Kitazawa ein Wahnsinn, denn wie jeder Mensch ist auch jede Quelle eine Persönlichkeit für sich, und was bei einer gesund ist, kann bei einer anderen schon schädlich sein.
Wer gut baden will, muss also nicht nur über die Art der Quelle nachdenken, sondern auch über ihre Temperatur, die Härte oder Weichheit des Wassers und seine chemische Zusammensetzung: Viel Eisengehalt ist gut fürs Blut, Schwefel hilft den Bronchien, Alkaline machen die Haut weich – und bevor man bei 45 Grad badet, sollte man zuerst eine Viertelstunde lang mit 25 Grad trainiert haben, um keinen Herzkasper zu kriegen.
»Es ist eine Wissenschaft«, sagte Kitazawa, »ich nenne sie die Wissenschaft des Schwitzens – man verbringt ein Leben damit, sie zu erforschen.«
So machten wir es an diesem Tag, Kitazawa-San und ich: Wir fuhren von Quelle zu Quelle, ließen uns von Frauen mit Sonnenhüten auf dem Kopf in heißen Schwefelsand einbuddeln, aus dem wir so erhitzt entstiegen, als hätten wir eine Woche in einer türkischen Sauna verbracht. Wir wühlten uns mit alten Männern durchSchlamm in allen möglichen Grautönungen und spürten, wie er unsere Knochen kräftiger und unsere Haut zarter machte. Und zwischendurch entspannten wir immer wieder auf Tatami-Matten in den Ruheräumen, die zu jedem Onsen-Bad gehören, und aßen plattenweise Sushi und Sashimi und tranken kaltes Kirin-Bier dazu, das unsere Körper erfrischte, wie es nur Bier fertigbringt.
Besonders nach dem Baden, das merkte ich an diesem Tag, zeigt sich, dass Onsen auch Orte der Kommunikation und des Friedens sind, denn so, wie die Quellen den Kreislauf anregen, regen sie auch die Gemüter der Menschen an, besonders die der Stadtmenschen, die sonst nicht mehr oft in die Natur kommen. Kitazawa-San und ich lachten mit vielen Japanern an diesem Tag, und weil Kitazawa so charmant war, hatte kaum einer Angst vor seinen Tätowierungen.
Gegen Abend merkte ich, wie ich begann, mich besser zu fühlen: Mein Rücken war elastisch wie einer dieser Eisenfedern-Expander, für die sie im Fernsehen nachts Werbung machen, und mit jedem Atemzug vertrieb ich mehr Grippeviren aus meinen Bronchien. Ja, fast hatte ich sogar das Gefühl, meine Kurzsichtigkeit würde sich verbessern und meine Dioptrienschwäche geringer werden
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