Die Sache mit dem Ich
– und auch die Perückendesignerin war auf einmal vergessen.
»Kitazawa-San«, sagte ich, während wir in einer leicht rot gefärbten Eisenquelle mit Blick auf einen japanischen Schwarzpinienwald saßen, »ich habe das Gefühl, alles viel klarer zu sehen.«
»Das ist die Kraft des Onsen«, sagte Kitazawa und lächelte.
»Sie lässt deine Seele strahlen.«
Dieser Satz ist der Grund dafür, dass ich Kitazawa-San fragte, ob er mich nicht mitnehmen könne auf seine Reise in die Seelenreinigung, die genauso eine Reise in die Seele Japans ist – denn die Seele dieses Landes, so Kitazawa, ist nicht an der Oberfläche zu erkennen. Die Seele Japans steckt nicht zwischen den Hochhäusern von Tokyo, sie steckt nicht in den Platinen und Chips derComputer, Handys und Walkmen – sondern unter der Erde, brodelnd, wohltuend und immer in Bewegung.
»Aus den Quellen kommen wir, und in die Quellen werden wir zurückkehren«, sagt Kitazawa.
Seit ein paar Tagen sind wir nun unterwegs und werden immer sauberer und gesünder, jetzt gerade im Arita Kanko Hotel, einem Onsen, der in hundertzwanzig Meter Höhe auf einer Gebirgsklippe liegt, von der aus man den Pazifik überblicken kann.
Der Blick ist berauschend, so wie das Fünfzig-Grad-Bad mit anschließender Massage, das ich gerade hinter mir habe, darum werde ich übermütig.
»Was passiert eigentlich, wenn man ganz gereinigt ist?«, frage ich Kitazawa, meinen Badephilosophen. »Ich meine: Wenn sämtlicher Schmutz aus deinem Körper verschwunden ist und alle Sünden getilgt sind – was machst du dann?«
Kitazawa sieht mich überrascht an, als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt.
»Vom Buddhismus hast du schon mal gehört, oder?«
»Ja.«
»Und vom Prinzip der ewigen Wiederkehr auch?«
Ich verstehe erst, als Kitazawa seine Hand vor mein Gesicht hält, die Hand mit den fehlenden Fingergliedern.
»Auch ein gereinigter Yakuza bleibt ein Yakuza«, sagt er und lacht, so laut, wie ich noch nie jemanden habe lachen hören.
Es ist ein guter Witz, ein sehr guter sogar, aber irgendwas daran, wie Kitazawa es sagt, lässt mich aufspringen vom Tisch mit dem dringenden Bedürfnis, ganz schnell noch ein Bad zu nehmen – ein besonders heißes diesmal, und, zum ersten Mal seit langer Zeit, eins, das ich sehr gern allein genießen würde.
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Warum ich nie Terrorist werden wollte
Neulich hatte ich einen sehr angenehmen Sonntag geplant. Nachdem ich meine Wohnung geputzt hatte (mach’ ich noch selbst), legte ich mich auf die Couch, um etwas zu tun, was ich schon lange vorhatte: die letzten hundert Seiten des Buchs »Moby Dick« von Herman Melville lesen.
Es ist eine komische Geschichte mit mir und diesem Buch, denn selbst gelesen habe ich es eigentlich noch nie. Mein Vater las es mir jeden Abend vor, als ich sieben war, wir begannen im Juli 1977 und kamen gut voran mit der Geschichte bis zu der Stelle, als der Harpunier Queequeg sich seinen Sarg zimmern lässt. Dann, am 5. September, war auf einmal Schluss. Es war der Tag, an dem Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt wurde.
Das hätte die Abendgestaltung in den meisten Familien nicht weiter gestört, doch bei mir war es anders, denn mein Vater war damals Polizist bei der Hamburger Kriminalpolizei und kam in den nächsten Monaten nie vor ein Uhr morgens nach Hause, zu spät, um mir zu berichten, wie es mit Queequeg, dem Erzähler Ismael, Käpt’n Ahab und dem Wal weitergeht. Stattdessen suchte mein Vater mit entsicherter Pistole nach konspirativen Wohnungen, lief da herum, wo einige Jahre vorher der Polizist Norbert Schmid erschossen worden war, und wurde nachts von neuen Anordnungen des BKA – Chefs Herold geweckt. Als auch noch die Nummer mit der »Landshut« dazukam und die Selbstmorde in Stammheim, war die Hysterie gar nicht mehr zu stoppen.
Die RAF und der heiße Herbst, den sie veranstaltete, dachte ich also auf der Couch, sind schuld daran, dass ich das Ende von »Moby Dick« nie erfahren habe. Es ist eine komische Geschichte mit mir und der RAF . Erst neulich erzählte mir der Autor Uwe Kopf, er wäre in den Siebzigern liebend gern in den Untergrund gegangen, hätte er nur gewusst, wo sich der befand. Als ich Uwe erklärte, er hätte damals nur in irgendeinem linksradikalen Studentenblatt eine Anzeige »Mitbewohner gesucht« schalten müssen, damit ein paar Stunden später Baader, Ensslin, Meinhof, die Prolls und Boock vor der Tür stehen, schwieg Uwe – vielleicht deshalb, weil er sich gerade überlegte,
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