Die Sache mit dem Ich
ihm eigenen Orakelart.
Sofort, nachdem wir im Viertel San Nomiya ausstiegen, war klar: Während in Tokyo Lärm und Stress auf dich einballern, liegt in Kobe Jazz in der Luft. Von dem Erdbeben, das hier Ende der Neunzigerjahre viel zerstört hat, sind kaum Spuren zu bemerken. Dafür riecht’s überall nach den besten Steaks der Welt (vom Kobe-Rind), und nach Nudelsuppen (die Tüten-Version kommt auch von hier). Musik von Miles Davis schwebt durch die Straßen, sodass die betrunkenen Geschäftsleute, die abends durch die Stadt laufen, nicht wie Taumelnde wirken, sondern wie Tänzer. Wo sie herkommen, verraten muezzinartige Gestalten, die an jeder Ecke stehen und Handzettel verteilen. Es sind die Anreißer der größten drei Karaoke-Ketten, sie rufen:
» JANKARAA, SUPER JANKARAA! «
» BIG ECHO, SUPERBIG KARAOKE ECHO! «
» U-BOU! GOGO-KARAOKE-U-BOUUUUUUUU! «
Das wären dann wohl unsere Ziele. Ein bisschen graute mir vor ihnen.
Wir tranken in der Hotel-Lobby Kaffee, als plötzlich zwei hübsche junge Frauen das Foyer betraten.
»Nicht schlecht, die beiden«, sagte ich.
»Nicht nur nicht schlecht, sogar top optimal«, sagte Old Sam Gamdschie. »Toptimal, sozusagen.«
Und was sonst nur bei »Verbotene Liebe«, Haruki Murakami oder im Internet passiert, passierte nun mitten in Kobe: Die Toptimalen kamen rüber.
»Konnichiwa. Seid ihr die zwei Deutschen? Aono hat uns Bescheid gesagt. Ich bin Miki, das hier ist meine Freundin Matsumi. Wir sollen euch Karaoke zeigen. Wisst ihr zum Beispiel, dass es übersetzt ›Leeres Orchester‹ heißt?«
»Nein, obwohl ich das poetischer finde als alles von Günter Grass. Und warum du so gut Englisch sprichst, ist mir ebenfalls ein Rätsel.«
»Bin seit drei Wochen von meinem Aupairjahr in Seattle zurück – Kurt Cobain, Baby!«
Sagte ich schon, dass kein Tourguide dieser großen, weiten, immer komplizierter werdenden Welt die absolut unglaublichen Tourguide-Qualitäten des absolut unglaublichen Aono Toshimitsu übertrifft? Nein? Dann sag ich’s jetzt.
Zehn Minuten später standen wir an der Kassentheke von SUPER JANKARA . Die Angestellten hier tragen Uniformen wie beiMcDonald’s. 52 Räume hat die Filiale in der Ikita-Street. Hier und in der gegenüberliegenden Higashimon-Street entstanden nach dem Krieg und während der amerikanischen Besatzung viele Bars und Musikklubs, die von den Matrosen besucht wurden, deren Schiffe in Kobes großem Hafen vor Anker lagen. Eine Jazz-Boheme mit vielen Bands entstand; mit japanischen Musikern, die trommeln wollten wie Art Blakey oder Max Roach und Saxofon spielen wie Sonny Rollins. Um sich ein paar Trinkgelder dazuzuverdienen, setzten sich einige der Musiker mit Keyboard oder E-Piano in Hostess-Bars, wo sie die angetrunkenen Gäste einluden, zu Liedern wie »Come Fly With Me«, »Unforgettable« oder »Twist & Shout« mitzusingen und ein bisschen auf Star des Abends zu machen. Bis 1971 ein Mann die Idee hatte, die Musiker durch eine Maschine zu ersetzen, die dasselbe tat.
Miki, Matsumi, Gamdschie und ich bekamen den Schlüssel für Raum Nr. 24, dazu zwei Mikrofone und eine Art Fernsteuerung, alles in einem Plastikkorb. Gemietet wird pro Stunde, Drinks are free, es sei denn, man will Cocktails oder Champagner. Wollten wir jetzt, um fünf Uhr nachmittags, noch nicht. Stattdessen Gemütlichkeit, Eiskaffee, Coke Zero.
Miki drückte an der Fernsteuerung des Cyber Dam herum. Übers Internet hat diese Maschine Zugriff auf die Instrumentalversionen von über 120 000 Songs.
»Was suchst du, Miki?«
»Mein Lieblingslied von Kobukuro.« Kobukuro ist eine J-Pop-Band aus Osaka. Sie wurde berühmt durch Hits wie oder . J-Pop-Bands machen Popmusik, die so sanft ist, dass alles von den Backstreetboys dagegen wie Grungerock wirkt – Kurt Cobain, Baby!
»Welches Lied?«
». Übersetzt heißt es in etwa so viel wie ›Flügel, die deinen Namen tragen‹.«
»Wow. Ist es sehr traurig, Miki?«
»Sehr.«
»Singst du bevorzugt traurige Lieder?«
»Ja.«
»Warum?«
Da guckte sie nur. Nicht schlimm, so blieb mir kurz Zeit, ein paar gewonnene Erkenntnisse zu notieren.
1. Japaner ziehen sich sehr gut an, wenn sie Karaoke singen gehen. Wie für einen Klub oder eine Party.
2. Gehen Männer mit Männern Karaoke singen, ist es ein Besäufnis.
3. Gehen Frauen mit Frauen Karaoke singen, ist es ein Kaffeekränzchen.
4. Gehen Männer mit Frauen Karaoke singen, ist es ein Date, bei dem die Männer mehr singen und die Frauen mehr zuhören.
5. Singen
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