Die Sache mit dem Ich
Rausch, dem Gamdschie und ich uns jetzt im Keller des U-BOU – Karaokeklubs entgegensehen: der Punkrock der vierzig grölenden Geschäftsmänner der Kopierer-Abteilung des Elektronikkonzerns Ricoh, die heute Abend den Beginn eines neuen Projekts feiern. Die Jungen tanzen mit den Alten, der Cheftrinkt mit dem Lehrling, und wenn der Chef einen auf Sinatra macht, darf der Lehrling lachen, ohne dass er riskiert, am nächsten Tag kein Lehrling mehr zu sein. Karaoke ist gesungene Transzendenz, Freiheit und Anarchie für ein paar Dreiminutensongs. Das ist seine Magie. Und weil sie so unfassbar ansteckend ist, bleibt mir gar keine Wahl, als das Mikrofon zu nehmen und Aerosmiths Meisterwerk »I don’t wanna miss a thing« zu singen:
» I COULD STAY AWAKE
JUST TO HEAR YOU BREATHING
WATCH YOU SMILE
WHILE YOU ARE SLEEPING ... «
Als zum Refrain dann der ganze Saal brüllt, so laut, dass sie’s draußen auf der Straße hören müssen, denkt keiner daran, wie es klingt. Solche Fragen stellen sie auf der Erde. Wir aber fliegen ja alle.
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Die Sache mit Kate Moss
»Der kommt hier nicht rein«, sagt der Manager der Hotelbar im Pariser »Ritz« und schüttelt den Kopf, während er auf mich zeigt. »Wie bitte?«, sagt die junge Frau mit dem Zebramantel und verzieht das Gesicht. »Mein Freund Johnny ist alle paar Wochen in diesem Hotel zu Gast, und er läuft genauso in Lederjacke und Jeans herum wie der junge Mann hier.« – »Das ist vollkommen egal, Mademoiselle«, sagt der feiste Manager, »es gibt in diesem Hotel eine Kleiderordnung, und die muss befolgt werden.« – »Ich wohne in diesem verdammten Hotel«, faucht Kate Moss ihn an, »und ich bezahle einen Haufen Geld dafür. Soll das heißen, dass ich meine Freunde in den Stundenhotels der Rue St. Denis treffen soll?« – »Sie können tun und lassen, was Sie wollen«, beendet der Mann im blauen Anzug seine Rede, »Hauptsache, Sie verlassen jetzt diese Hotelbar.« – »Gut«, sagt Kate, »das tun wir, aber glauben Sie nicht, dass das keine Konsequenzen für Sie haben wird!« Sie dreht sich um, schnappt den Ärmel meiner Jacke und zieht mich mit in den Aufzug. »Dann gehen wir eben in mein Zimmer und lassen uns von dem Trottel persönlich einen Cappuccino bringen«, schnaubt sie. Wir fahren hoch ins oberste Stockwerk, und ich beginne, mich besser zu fühlen, weil Kate sich so gut um mich kümmert.
Sie wohnt in Suite 607, einem Zimmer, das aussieht wie aus einem Roman von Jane Austen. Auf dem Bett liegt eine bestickte Blumendecke, darüber hängt ein Kronleuchter, an der Wand befindet sich ein riesiges Ölgemälde von einem Gartenfest am Ende desletzten Jahrhunderts, und überall im Raum sind barocke Verzierungen und goldgerahmte Spiegel angebracht. »Nett hier, nicht?«, sagt Kate. »Eigentlich wollte ich viel lieber ins ›L’Hôtel‹, das andere große Hotel in Paris. Es gibt dort dieses Zimmer, in dem Oscar Wilde gestorben ist, und die Tapete soll noch dieselbe sein wie damals. Ich würde zu gern einmal eine Nacht dort verbringen.« Nachdem sie mit der Hotelbar telefoniert und zwei Cappuccinos bestellt hat, zieht sie ihre Jacke aus und stellt den Fernseher auf MTV . Auf dem kleinen Beistelltisch steht eine Schüssel mit in Wasser aufgelöstem Minzöl. »Der Arzt war gerade da«, sagt Kate, »seit ich aus Mailand zurück bin, laufe ich mit so einer dämlichen Erkältung herum. Zum Glück kennt er sich mit Homöopathie aus, denn ich glaube nicht an Antibiotika und diesen ganzen Kram.« Sie schluckt ein halbes Röhrchen der bunten Pillen, die wie lustige Drogen aussehen, und zündet sich eine Zigarette an.
Wir gehen raus auf den kleinen Balkon der Suite und blicken über die gesamte Westseite von Paris. Während ich Kate zusehe, wie sie an ihrer Zigarette zieht und auf einen Mann zeigt, der am Ende des Häuserhorizonts über die Dächer spaziert, erinnere ich mich daran, wie ich mir auf der Zugfahrt von Hamburg nach Paris diesen Bildband von ihr von Schirmer/Mosel angesehen habe. Am besten gefiel mir das recht unspektakuläre Foto eines unbekannten Fotografen, das vor zwei Jahren in einer englischen Tageszeitung abgedruckt wurde: Kate sitzt in der Küche eines Freundes und raucht. Sie trägt ein ärmelloses weißes T-Shirt, und ihre Augen sind geschlossen, während sie die Zigarette zum Mund führt. Das Tolle an diesem Foto ist, dass Kate auf dem Bild so eine Gelöstheit im Gesicht hat, die jeder Mensch kennt, wenn er einen Augenblick innehält und sich hinter
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