Die Sache mit dem Ich
klopft es wieder an der Tür, und der Kellner von vorhin bringt zwei Gin Tonic und zwei neue Cappuccinos. Weil ich eh nicht genau weiß, warum ich jetzt mitten am Nachmittag ein Glas Gin Tonic trinke, nehme ich einen ordentlichen Schluck. »Früher habe ich sehr viel von diesem Zeug getrunken«, sagt Kate, während sie an dem Drink nippt, »aber seit ich Johnny kenne, gehe ich nicht mehr so viel aus. Wir sitzen oft zu Hause und sehen uns alte Hollywood-Filme mit Lauren Bacall und Humphrey Bogart an.« Und weil Kate und ich immer noch keine Lust haben, über ihr Model-Leben und die Rücknahme der Calvin-Klein-Kampagne zu reden, erzählt sie noch einen Haufen anderer Geschichten – wie Johnny und sie bei dem Musiker Neil Young zu Hause waren und Young Besuch von einem Fan bekam, der ihn mit den Worten begrüßte: »Hallo, Neil, ich bin Jesus, und du bist Gott, wir müssen dringend miteinander reden!« Sie redet davon, dass ihr ein alter Wahrsager in Hongkong geraten hat, sie solle sich jetzt alles aufschreiben, was sie erlebe, weil sie eines Tages sehr vergesslich werden würde. Kate sagt, sie könne an Frankreich bis auf Chardonnay und Camembert überhaupt nichts mehr ausstehen, seit Chirac seine Atomversuche in Mururoa veranstaltet. Sie werde demnächst mit einigen anderen Models und Fotografen eine »No Nukes In The Pacific Sea«-Aktion starten.
Während Kate vor sich hin erzählt, merke ich langsam, wie der Gin Tonic in meinem leeren Magen zu wirken beginnt und sich ein warmes Gefühl in meinem Körper ausbreitet. Ich schließe einen Moment lang die Augen, um das Sonnenlicht auf den Lidern zu spüren, dann stehe ich auf vom Boden des Balkons und blicke am Hoteldach entlang in den Himmel. Alles dreht sich ein bisschen vor meinen Augen, und ich frage Kate, was ich sie schon lange fragen wollte. »Sag mal, Kate«, fange ich an, »wäre es nicht das Beste von der Welt, wenn wir jetzt über das kleine Geländer hier auf das Dach des blöden ›Ritz‹ klettern würden und dann für denRest des Tages dort oben blieben? Ich meine mit der Sonne, Paris und alldem?«
Kate runzelt die Stirn ein wenig und blickt mich an. »Alles klar mit dir?«, fragt sie und fasst mich am Arm. »Es ist ein ganz schön langer Weg nach dort oben. Glaubst du denn, dass du die Versicherungssumme bezahlen kannst, wenn ich herunterfalle?« Ich wanke ein bisschen, als ich ihr ins Gesicht sehe, weil mir auf einmal klar wird, wer Kate Moss in Wirklichkeit ist: Sie ist die Holly Golightly, die Truman Capote im Kopf hatte, als er seinen Roman »Frühstück bei Tiffany« schrieb. Sie ist das Mädchen, das einen namenlosen Kater zu Hause hat, vergreiste Rauschgiftdealer im Knast besucht und sich irgendwann nach Brasilien absetzt – sie ist das Mädchen, das der Held der Geschichte nicht bekommt. Und während ich das denke und ansetze, ihr diesen eigentlich ja vollkommen bescheuerten Satz: »Du bist Holly Golightly, Kate«, zu sagen und was für ein Riesenkompliment das überhaupt sei, klingelt irgendwo hinten im Zimmer das Telefon. »Warte einen Moment«, sagt sie und geht zu dem kleinen Tisch, auf dem der Apparat steht, und nimmt den Hörer ab. Gleich nach den ersten Worten ist klar, dass nun wirklich Johnny Depp dran ist: »Hallo Herzchen«, sagt Kate, »schön, dass du endlich da bist. Wann kommst du? Treffen wir uns am Flughafen?« Kate strahlt, nachdem das Gespräch beendet ist, aber ich bin mir auf einmal nicht mehr so sicher, ob Johnny Depp wirklich so ein guter Typ ist, weil er seine in Arizona gelernten magischen Kräfte gerade jetzt gegen mich ausspielen muss. »Johnny kommt gleich«, sagt sie. »Ich habe ihm von der Geschichte in der Hotelbar erzählt. Er sagt, dass er nachher auch alte Jeans und eine dreckige Lederjacke tragen wird.« Zehn Minuten später muss Kate los. Ohne zu wissen warum, greife ich nach einem der leeren Tablettenröhrchen und stecke es ein.
Bevor wir das »Ritz« verlassen, bleibt Kate an der Rezeption des Hotels stehen. »Ich möchte bitte den Hotelmanager sprechen«, sagt sie. Kurz darauf erscheint ein Herr mittleren Alters mit Sorgenfalten auf der Stirn. »Ich will mich darüber beschweren, dass die Gäste in Ihrem Hotel wie Kleinkinder behandelt werden«, sagt Kate und erzählt dem Mann von dem Vorfall an der Bar. Er wiegt bedächtig den Kopf und erinnert an die Kleiderordnung des Hotels. Darauf antwortet Kate mit dem besten Satz, den ich in diesem Jahr gehört habe: »Was nützt eine Kleiderordnung, wenn das
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