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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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Schwimmbewegungen nützen nichts. Die Schwerelosigkeit ist ein Raum ohne Widerstand, ich muss mich erst daran gewöhnen.
    Aber dann, in der zweiten, dritten, vierten Parabel, beginne ich damit zu spielen. Ich fliege von einer Sitzreihe zur nächsten; ich hänge an der Decke wie Spiderman; ich mache Kampfbewegungen mit dem ganz und gar für diesen Raum geschaffenen Lichtschwert, dessen Flugeigenschaften meisterlich sind.
    So leicht war ich noch nie.
    Und Berlin ist weit weg.
    Und Griechenland ist weit weg.
    Und die Katholiken sind weit weg.

    Die Schwerelosigkeit ist ein Raum ohne Widerstand. Die Schwerelosigkeit ist ein Raum, in dem wir eigentlich nichts sind. Sie ist metaphysischer als alles von Immanuel Kant.
    Ich glaub, da fahr’ ich jetzt öfter hin.

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Reise ins Herz der Flasche
    Was ist das, die Erinnerung? Wo kommt sie her, was ruft sie hervor, warum überfällt sie uns plötzlich und unerwartet wie ein Ninja-Krieger, der einem ins Genick springt?
    Einige sagen, die Erinnerung sei ein Gefühl. Andere meinen, sie sei ein Geruch. Die Wissenschaft behauptet, sie sei ein chemischer Prozess im Hirn. Sie alle irren, nur ich allein kenne die Wahrheit: Die Erinnerung ist ein Geschmack nach Limonensaft, Salz und Benzin. Erinnerung, dein Name ist Tequila – und wo könnte sie stärker über mich kommen als früh am Abend in einer kleinen Bar in Tequila, Mexiko, dem Geburtsort dieses Teufelsgetränks?
    »Trink!«, sagt Don Javier, der 86-jährige Patron der Bar »La Capilla« in der Altstadt des Orts.
    »Trink!«, sagt Aron, sein Enkel.
    »Trink!«, sagt ein Fremder mit Cowboyhut, Schnauzbart und einer Haut, die glänzt wie poliertes Leder.
    Also trinke ich. Ich lecke das Salz, ich stürze das Glas, ich beiße die Limone. 40 Prozent Alkohol, drei verschiedene Geschmäcker in drei Sekunden; ein Kehlbrand, gespeist von drei Lunten. Und alles, alles erscheint wieder vor mir: Warum ich hier bin. Warum ich weg war. Warum ich ich bin.
    Es war vor über zwanzig Jahren. Wir waren zu viert damals, Brad, Liz, Marisa und ich. Ich war Austauschschüler in Amerika und hatte es gut getroffen: California Dreaming, in einem Ort unweit von San Francisco. Brad war mein bester Freund, Liz sein Mädchen und die schöne Marisa sollte meins werden. Die Sympathie war groß, nur zwei Dinge standen zwischen uns:
    – Marisa war sehr katholisch (amerikanisch-italienisch)
    – Marisa war sehr nüchtern (Anhängerin der Skaterreligion Straight Edge)
    »Was soll ich tun, Brad?«
    »Bring sie nach Tijuana. Dort wird sie Gott und ihr Skateboard vergessen.«
    Für diejenigen, die Tijuana erst aus der »Weltspiegel«-Berichterstattung der letzten fünf Jahre kennen: Der Ort an der mexikanisch-amerikanischen Grenze war nicht immer nur für seine Frauenmorde, Hinrichtungen und Drogengangs bekannt. Früher beschränkte sich die Sünde aufs Feiern, Tanzen, Trinken. Darum fuhren jedes Wochenende Tausende amerikanische Highschoolschüler dorthin.
    So auch wir.
    Es war kurz nach Mittag, als wir die erste Cantina betraten.
    »Was trinken wir?«
    »Tequila!«
    Sie brachten uns ein, zwei, drei, vier Shots mit Salz & Zitrone, die wir hintereinander wegtranken. Sie schmeckten widerlich, aber wirkten natürlich.
    Es war kurz nach eins, als wir die zweite Cantina betraten.
    »Was trinken wir?«
    »Tequila!«
    Sie brachten uns die fünften, sechsten, siebten, achten Shots, die wir alle hintereinander wegtranken. Sie schmeckten noch widerlicher, aber wirkten natürlich.
    Es war kurz nach zwei, als mein Kopf zu schwanken und meine Augen zu rollen begannen. Es war Viertel nach zwei, als ich anfing, Brad zu beschimpfen, und Marisas Namen vergessen hatte. Es war zwanzig nach, als ich das Gefühl hatte, fünf Meter NATO – Draht in der Kehle zu haben, und Marisa eine Mischung aus Alkohol, Limonensaft und Salz auf den Schoß kotzte. Danach fiel ich von der Bank und schlug mir den Kopf blutig. Marisa redete nie wieder ein Wort mit mir. Ich trank nie wieder Tequila.
    Tequila hatte meine Liebe zerstört.
    Tequila hatte meine Würde genommen.
    Tequila hatte mir ein Trauma verschafft. Um mich ihm zu stellen wie ein Boxer, der einen verlorenen Kampf nicht vergessen kann, bin ich hergekommen. Ich muss ganz tief rein ins Herz der Flasche, um zu verstehen, was geschehen ist.
    Ich machte es wie die hunderttausend anderen, die im Jahr nach Tequila reisen. Ich flog in den Westen Mexikos, nach Guadalajara. Von dort nahm ich den »Tequila Express«, einen Touristenzug, der durch

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