Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Er brauchte nicht lange, bis ihm die Antwort einfiel.
Er hatte wieder Hunger.
Kapitel IV
Die Kathedrale von Kingsbridge bot alles andere als einen erfreulichen Anblick. Der niedrige, gedrungene Bau mit dicken Mauern und winzigen Fenstern stammte aus einer Zeit lange vor Toms Geburt; aus Tagen, da den Baumeistern die Bedeutung der Proportionen noch nicht klar gewesen war. Toms Generation wusste, dass eine gerade, echte Wand stärker war als eine dicke Mauer und dass man die Wände durchaus mit großen Fenstern versehen konnte, solange diese nur über perfekte Rundbogen verfügten. Aus der Entfernung betrachtet, wirkte die Kathedrale zudem leicht windschief. Beim Näherkommen erkannte Tom, warum: Einer der beiden Zwillingstürme auf der Westseite war eingestürzt. Die Entdeckung erfüllte ihn mit heimlicher Freude: Dem neuen Prior war sicher an einem raschen Wiederaufbau gelegen. Hoffnung beflügelte seine Schritte. Die Ereignisse auf Earlscastle hatten ihm arg zugesetzt: Kaum hatte er die lang ersehnte Anstellung gefunden, da wurde sein neuer Arbeitgeber überfallen und gefangen gesetzt. Noch eine solche Enttäuschung überlebe ich nicht, dachte Tom bei sich.
Sein Blick fiel auf Ellen. Sie wird mich verlassen, dachte er voller Angst. Sobald sie glaubt, dass ich keine Arbeit mehr finde und folglich mitsamt meinen Angehörigen verhungern muss, wird sie gehen … Ellen lächelte ihn an, doch als sie sich abwandte und wieder die wuchtige, düstere Kathedrale vor Augen hatte, verfinsterte sich ihre Miene wieder. Es war Tom nicht entgangen, dass sie sich in Gegenwart von Priestern und Mönchen nicht wohl in ihrer Haut fühlte, und er fragte sich, ob Ellen vielleicht ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ohne den Segen der Kirche mit ihm zusammenlebte.
Auf dem Klostergelände herrschte geschäftiges Kommen und Gehen. Tom wusste aus eigener Erfahrung, dass es solche und solche Klöster gab, verschlafene und aktive, doch das Bild, das sich ihnen in Kingsbridge bot, übertraf alles, was er bisher erlebt hatte. Es sah so aus, als sei drei Monate vor der Zeit ein gründlicher Frühjahrsputz im Gange. Vor den Ställen, die gerade von einigen Novizen ausgemistet wurden, standen zwei Mönche und striegelten die Pferde, während ein dritter Zaumzeug reinigte. Das Gästehaus neben den Ställen wurde gefegt und geschrubbt, und vor der Tür stand ein Wagen mit frischem Stroh.
Kein Mensch arbeitete indessen an dem eingestürzten Turm. Fachmännisch begutachtete Tom den Trümmerhaufen, der von ihm übriggeblieben war. Der Einsturz musste schon einige Jahre zurückliegen, denn Frost und Regen hatten die scharfen Kanten der Steine abgeschliffen, der bröckelige Mörtel war fortgeschwemmt und der gesamte Steinhaufen schon ein oder zwei Zoll tief in dem weichen Boden eingesunken. Merkwürdig, dass man so lange nichts daran getan hat, dachte Tom, Kathedralen gelten doch gemeinhin als etwas Besonderes. Der verstorbene Prior muss faul, unfähig oder beides gewesen sein … Wahrscheinlich werden die Mönche jetzt an den Wiederaufbau denken – das heißt, ich komme gerade zur rechten Zeit. Nach so viel Pech ist eine Glückssträhne ja auch überfällig …
»Niemand erkennt mich«, sagte Ellen.
»Wann warst du denn zum letzten Mal hier?«, fragte Tom.
»Vor dreizehn Jahren.«
»Kein Wunder, dass sie sich nicht mehr an dich erinnern können.«
Sie schritten gerade an der Westfassade entlang. Tom öffnete eine der großen Holztüren und warf einen Blick ins düstere Innere. Sogleich erkannte er die dicken Säulen und die alte Holzdecke. Doch auch hier tat sich einiges: Da waren Mönche, die mit langstieligen Pinseln die Wände weißelten, während andere den aus gestampftem Lehm bestehenden Boden fegten. Der neue Prior war offensichtlich bestrebt, das Kloster rundum aufzumöbeln. Auch das gab Anlass zur Hoffnung. Tom schloss die Tür wieder.
Im Küchenhof auf der anderen Seite der Kirche standen mehrere Novizen vor einem großen Trog voll schmutzigem Wasser und kratzten mit scharfrandigen Steinen Ruß- und Fettreste von Kochtöpfen und anderem Küchengeschirr. Ihre Fingerknöchel waren wundgescheuert und vom eiskalten Wasser gerötet. Als sie Ellen erblickten, kicherten sie und trauten sich nicht, sie offen anzusehen.
Tom fragte einen errötenden Novizen, wo der Cellerar zu finden sei. Streng genommen hätte er sich nach dem Sakristan erkundigen müssen, in dessen Verantwortungsbereich alle baulichen Maßnahmen auf dem
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