Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Frau schien ihn – im Gegensatz zu den meisten anderen Mönchen – nicht befangen zu machen. Er lächelte in die Runde und sagte zu Cuthbert: »Jonathan braucht mehr Milch.«
Am liebsten hätte Tom das Kind in die Arme geschlossen. Er gab sich alle Mühe, seine Gefühle zu verbergen, und sah verstohlen die Kinder an. Sie wussten nur, dass ein reisender Priester den ausgesetzten Säugling gefunden hatte. Dass sein Retter ihn in einem kleinen Kloster im Wald abgeliefert hatte, war ihnen unbekannt. Ihre Mienen verrieten nur mäßige Neugier; anscheinend kam keines von ihnen auf die Idee, das Kind auf dem Arm des Mönchs könnte dasselbe sein wie das, welches sie im Wald zurückgelassen hatten.
Cuthbert ergriff einen Schöpflöffel und füllte aus einem bereitstehenden Eimer Milch in einen kleinen Krug. Ellen wandte sich an den jungen Mönch und fragte ihn: »Darf ich das Kindchen mal halten?« Sie streckte die Arme aus, und der Mönch reichte ihr den Säugling. Tom beneidete sie. Wie gerne hätte er das kleine warme Bündel an sein Herz gedrückt! Ellen wiegte den Säugling in den Armen, sodass er vorübergehend verstummte.
Cuthbert sah auf. »Wohlan, Johnny Eightpence, ein braves Kindermädchen ist er! Aber ihm fehlt die Wärme und Weichheit des Weibes.«
Ellen lächelte den jungen Mann an. »Warum nennt man Euch Johnny Eightpence?«
Cuthbert antwortete an seiner statt. »Weil er nur acht Pence auf den Shilling bringt«, sagte er und tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Aber auf die Bedürfnisse eines so kleinen dummen Wesens scheint er sich besser zu verstehen als wir, die wir mit allen Geistesgaben gesegnet sind.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann unbestimmt hinzu: »Das ist wohl alles Teil einer höheren göttlichen Fügung …«
Ellen stand inzwischen neben Tom und hielt ihm das Kind mit ausgestreckten Armen entgegen. Sie hatte seine Gedanken gelesen. In tiefer Dankbarkeit sah er sie an und nahm das kleine Menschlein in seine großen Hände. Durch die Decke, in die der Säugling gewickelt war, spürte er das Herz des Kindes schlagen. Die Decke war aus teurem Tuch, und eine Frage schoss ihm durch den Kopf: Woher die Mönche wohl so weiche Wolle haben? Er drückte das Kind an seine Brust und wiegte es hin und her. Seine Methode war jedoch offenbar nicht so gut wie die Ellens, denn der Kleine begann wieder zu schreien. Tom hatte nichts dagegen. Das kräftige Gebrüll war Musik in seinen Ohren, bedeutete es doch nichts anderes, als dass das Kind, das er im Wald ausgesetzt hatte, gesund und munter war. Schweren Herzens gestand er sich ein, dass die Entscheidung, den Kleinen in der Obhut der Mönche zu lassen, die einzig richtige gewesen war.
»Wo schläft er denn?«, fragte Ellen Johnny.
Diesmal beantwortete Johnny die Frage selbst: »Sein Kinderbettchen steht bei uns im Dormitorium.«
»Dann weckt er Euch doch jede Nacht auf.«
»Um Mitternacht müssen wir ohnehin aufstehen, zur Frühmesse«, erklärte Johnny.
»Natürlich! Ich vergaß, dass die Nächte der Mönche so ruhelos sind wie die der Mütter!«
Cuthbert gab Johnny den Milchkrug. Der junge Mönch nahm ihn entgegen – und holte sich mit der freien Hand und geübtem Griff den Säugling zurück. Tom war darauf nicht gefasst; er wollte seinen Sohn noch nicht wieder fortgeben, doch was konnte er tun? In den Augen der Mönche hatte er nicht die geringsten Ansprüche auf das Kind. Einen Augenblick später war Johnny mitsamt seinem Schützling verschwunden – sehr zum Leidwesen Toms, der nur mit Mühe der Versuchung widerstand, hinterherzulaufen und zu rufen: So wartet doch, halt! Es ist mein Sohn! Gebt ihn mir zurück! Ellen packte ihn am Arm und drückte ihn; es war wie ein stummer Zuspruch.
Wieder ein Hoffnungsschimmer, dachte Tom. Wenn ich hier Arbeit bekomme, kann ich Jonathan jeden Tag sehen. Es war fast zu schön – ein Traum, an dessen Erfüllung er kaum zu denken wagte.
Dem lebenserfahrenen Cuthbert war nicht entgangen, wie sich die Augen von Martha und Jack beim Anblick des mit fetter, cremiger Milch gefüllten Krugs geweitet hatten. »Mögen Eure Kinder vielleicht ein wenig Milch?«, fragte er.
»O ja doch, gewiss, ich bitte Euch, Vater«, erwiderte Tom. Er hätte selber gerne etwas davon gehabt.
Cuthbert füllte zwei Holzschüsselchen mit Milch und reichte sie Martha und Jack. Gierig stürzten die beiden das Getränk herunter. Um ihre Münder bildeten sich große weiße Ringe. »Noch ein bisschen?«, fragte
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