Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Prior freute sich, als habe er selbst den Überfall ausgeführt.
Tom wollte sich nicht in ein Gespräch über Graf Bartholomäus verwickeln lassen. »Der Graf hatte mich am Tag vorher mit dem Ausbau der Verteidigungsanlagen beauftragt«, sagte er. »Aber ich bekam nicht einmal einen Tageslohn.«
»Wie bedauerlich«, sagte Philip. »Übrigens – von wem wurde die Burg eigentlich angegriffen?«
»Von Lord Percy Hamleigh.«
»Aha!« Philip nickte, und einmal mehr hatte Tom den Eindruck, dass er dem Prior mit seinem Bericht lediglich bestätigte, was dieser ohnehin erwartete. Er wollte jetzt endlich auf seine eigenen Sorgen zu sprechen kommen.
»Ihr seid dabei, die Kathedrale zu renovieren …«
»Ja, ich tue, was ich kann«, erwiderte Philip.
»Gewiss wollt Ihr auch den Turm wieder aufbauen.«
»Den Turm wieder aufbauen, das Dach ausbessern, den Boden pflastern … ja, das habe ich vor.« Erst jetzt schien ihm der Grund für Toms Anwesenheit aufzugehen. Rasch fügte er hinzu: »Und Ihr bewerbt Euch um die Stelle des Baumeisters, habe ich recht? Entschuldigt meine Unaufmerksamkeit. Ich würde Euch wirklich sehr gerne anstellen. Das Problem ist nur: Ich kann Euch nicht bezahlen. Die Klosterkasse ist leer, absolut leer.«
Für Tom kam die Antwort wie ein Schlag ins Gesicht. Alles hatte darauf hingedeutet, dass hier in Kingsbridge endlich Arbeit auf ihn wartete. Er wollte seinen Ohren nicht trauen und starrte den Prior an. Das Kloster sollte kein Geld haben? Das war doch unfassbar! Gewiss, der Cellerar hatte gesagt, dass all die zusätzlichen Arbeiten ausschließlich von Mönchen erledigt würden … Doch selbst, wenn es stimmte, was der Prior sagte: Ein Kloster konnte sich allemal beim Juden Geld borgen. Das ist das Ende, dachte Tom. Er hatte das Gefühl, von allen Kräften, die ihn bislang durch den Winter gebracht hatten, verlassen zu werden. Er fühlte sich schwach und hilflos. Ich kann nicht mehr, dachte er, es ist aus und vorbei.
Philip erkannte seine Not. »Ich kann Euch ein Abendbrot anbieten und einen Schlafplatz, auch Frühstück könnt Ihr haben.«
Bitterer Zorn übermannte Tom. »Ich nehme Euer Angebot an«, sagte er. »Aber lieber tät ich’s mir verdienen!«
Philip hob die Brauen, als er merkte, welche Gefühle Tom bewegten. Dennoch antwortete er mit sanfter Stimme: »Wendet Euch an Gott – das nennt man beten, nicht betteln.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Auch den anderen war Toms Erregung aufgefallen; sie wirkten alle ein wenig verschreckt. Es ärgerte ihn, dass sie ihn alle anstarrten. Nur wenige Schritte hinter Philip trat er hinaus ins Freie, blieb im Hof vor der Tür stehen, sah die große alte Kirche vor sich aufragen und rang um Fassung.
Ellen und die Kinder folgten ihm wenige Augenblicke später nach. Ellen legte ihm tröstend den Arm um die Taille – eine Geste, die die Novizen sogleich wieder dazu veranlasste, einander anzustoßen und zu tuscheln. Tom achtete nicht darauf. »Ich werde beten«, sagte er mit grimmiger Entschlossenheit. »Ich werde beten, dass ein Blitz vom Himmel fährt und die Kirche hier in Schutt und Asche legt.«
Seit zwei Tagen wusste Jack, was es bedeutete, die Zukunft fürchten zu müssen.
Nie zuvor in seinem bisherigen kurzen Leben hatte er weiter als einen Tag vorausdenken müssen – und wäre er je in die Verlegenheit geraten, so hätte er gewusst, was ihn erwartete. Im Wald war ein Tag wie der andere, und die Jahreszeiten gingen unmerklich ineinander über. Hier draußen war alles anders: Da wusste man heute nicht, wo man morgen sein, was man tun und ob man etwas zu essen bekommen würde.
Das Schlimmste daran war das dauernde Hungergefühl. Um die Schmerzen zu lindern, hatte Jack heimlich Gras und Blätter gegessen – mit dem Ergebnis, dass die Schmerzen nicht ausblieben, sondern sich lediglich etwas veränderten. Und übel wurde einem obendrein. Martha weinte oft vor Hunger. Sie und er gingen immer gemeinsam. Martha sah zu ihm auf – er hatte so etwas noch nie erlebt. Dass er nicht imstande war, ihr zu helfen, quälte ihn noch mehr als sein eigener Hunger.
Wären sie daheim, in der Umgebung der Höhle, geblieben, da hätte er schon Abhilfe geschaffen: Er hätte Enten jagen, Nüsse sammeln und Eier stehlen können; er kannte die Stellen und wusste, wie es ging. In Städten und Dörfern und auf den unbekannten Straßen und Wegen dazwischen war er dagegen völlig hilflos. Das Einzige, was er wusste, war, dass Tom unbedingt Arbeit
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