Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Querschiff.
Philip war wie vom Schlag gerührt. Der Anblick eines in sich zusammenstürzenden Gebäudes von solcher Größe war von schrecklicher, bewegender Kraft. Es war wie ein Berg, der ins Rutschen geriet, oder ein Fluss, der auf einmal austrocknete. Nie, in seinen schlimmsten Träumen nicht, hatte Philip ein solches Ereignis vorausgesehen, ja, er zweifelte noch immer daran, ob das, was sich vor seinen Augen abspielte, Wirklichkeit war. Er wusste nicht mehr ein noch aus.
Cuthbert zog ihn am Ärmel. »Komm raus, schnell!«, schrie er.
Philip konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Er musste an die Rechnung denken, die er gerade erst aufgestellt hatte: Die finanzielle Sanierung des Klosters sollte zehn Jahre dauern – zehn Jahre voller Einschränkungen und harter Arbeit … Und jetzt kamen plötzlich neue Aufgaben auf ihn zu: ein neues Dach, eine neue Nordmauer … und vielleicht noch mehr, ein Ende war gar nicht abzusehen. Das ist Teufelswerk, dachte er. Wie sonst ist es möglich, dass der Dachstuhl ausgerechnet in einer frostkalten Januarnacht Feuer fängt?
»Wir kommen hier noch um!«, schrie Cuthbert, und die Angst in seiner Stimme rührte Philips Herz. Er wandte sich ab. Gemeinsam verließen sie die Kirche und rannten in den Kreuzgang.
Auch die Mitbrüder waren inzwischen alarmiert. Einer nach dem anderen tappten sie aus dem Dormitorium und hielten an der Tür unwillkürlich inne, um zur brennenden Kirche aufzusehen. Um zu verhindern, dass es zu einem Gedränge kam, hatte Küchenmeister Milius neben der Tür Aufstellung genommen und scheuchte die Brüder weiter. Seinen Anweisungen folgend, entfernten sie sich über die Südseite des Kreuzgangs. Dort stand auf halbem Wege Tom Builder und wies sie an, sich durch den Torbogen in Sicherheit zu bringen. Philip hörte ihn sagen: »Geht zum Gästehaus, und haltet Euch unter allen Umständen von der Kirche fern!«
Er übertreibt, dachte Philip. Hier im Kreuzgang besteht doch gewiss keine Gefahr – oder? Andererseits – es schadete nicht und war vielleicht eine ganz vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich, gestand er sich ein, hätte ich selber darauf kommen müssen …
Toms Vorsicht brachte ihn auf einen anderen schlimmen Gedanken: Was war noch alles von dem verheerenden Feuer bedroht? Wenn schon der Kreuzgang nicht absolut sicher war – wie verhielt es sich dann mit dem Kapitelhaus? In einem kleinen, fensterlosen Seitenzimmer mit dicken Steinmauern bewahrten sie die eisenbeschlagene Eichenholzkiste auf, in der sich nicht nur das geringe Barvermögen des Klosters und die juwelengeschmückten Gefäße des Sakristans befanden, sondern auch wertvolle Urkunden wie königliche Privilegien und Besitztitel.
Philip erblickte Schatzmeister Alan, einen jungen Mönch, der für den Sakristan arbeitete und mit der Beaufsichtigung der Kirchengeräte betraut war. Er rief ihn zu sich. »Der Klosterschatz muss in Sicherheit gebracht werden. Er kann nicht länger im Kapitelhaus bleiben. Wo ist der Sakristan?«
»Er ist fort, Vater.«
»Dann suche ihn, lass dir die Schlüssel geben, und bring den Schatz ins Gästehaus. Und nun lauf!«
Während Alan sich im Laufschritt entfernte, wandte Philip sich an Cuthbert und sagte: »Du behältst ihn am besten im Auge!« Cuthbert nickte und folgte Alan.
Philip sah wieder in die Höhe. In den wenigen Augenblicken, in denen seine Aufmerksamkeit abgelenkt gewesen war, hatte das Feuer sich noch verstärkt. Wild schlugen die Flammen empor, und der Feuerschein ließ alle Fenster erstrahlen. Der Sakristan hätte sich eigentlich um den Schatz kümmern müssen, dachte er. Statt dessen hatte er nichts Eiligeres zu tun, als seine Haut zu retten … Haben wir sonst noch etwas vergessen? Angesichts der Schnelligkeit, mit der sich die Dinge entwickelten, fiel es ihm schwer, folgerichtig zu denken. Die Brüder bringen sich in Sicherheit, der Schatz wird geholt …
Ich habe den Heiligen vergessen!
Hinter dem Bischofsthron in der Apsis befand sich das steinerne Grabmal des heiligen Adolphus, eines frühen englischen Märtyrers. Das Skelett des Heiligen ruhte in einem Holzsarg innerhalb des Grabmals. In regelmäßigen Abständen wurde die schwere Steinplatte des Grabmals gehoben und der Sarg öffentlich zur Schau gestellt. Obwohl aus früheren Zeiten überliefert war, dass Kranke, die sein Grabmal berührt hatten, auf wundersame Weise geheilt wurden, war Adolphus in den vergangenen Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten. Die
Weitere Kostenlose Bücher