Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
sprang auf. Ich muss mit ihr darüber sprechen, dachte er. Rasch verließ er das Haus. Ellen stand am Tor und verabschiedete sich von Martha. Tom rannte am Stall vorbei und erwischte sie gerade noch rechtzeitig.
Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln. »Leb wohl, Tom.«
Er ergriff ihre Hände. »Wirst du eines Tages zurückkehren? Nur auf Besuch? Wenn ich weiß, dass es kein Abschied für immer ist und dass du irgendwann wiederkommst, und sei es auch nur für eine kurze Frist … Wenn ich das weiß, dann komme ich drüber hinweg.«
Sie zögerte.
»Bitte!«
»Gut«, sagte sie.
»Schwör es!«
»Ich halte nichts von Schwüren.«
»Aber ich.«
»Gut. Ich schwöre es.«
»Ich danke dir.« Zärtlich zog er sie an sich. Ellen ließ es geschehen. Er nahm sie in die Arme, und die Tränen strömten über sein Gesicht. Schließlich entzog sie sich ihm. Widerstrebend gab er sie frei, und Ellen wandte sich dem Tor zu.
Vom Stall her ertönte plötzlich ein Geräusch. Es war das Schnauben und Stampfen eines feurigen, ungehorsamen Rosses. Es handelte sich um Walerans Hengst, den der Bischof gerade besteigen wollte. Walerans und Ellens Blicke kreuzten sich, und er erstarrte.
Und in diesem Augenblick fing sie an zu singen.
Tom kannte das Lied nicht, obgleich er es schon des Öfteren von ihr gehört hatte. Es hatte eine furchtbar traurige Melodie und einen französischen Text, doch Tom verstand genug, um zu wissen, worum es ging.
Ein Lerchenvogel tat sich einst
im Jägernetz verfangen.
Und singt so süß und singt so rein,
als ob der Stimme Zauberklang –
ihn wieder könnt’ befreien.
Tom sah unwillkürlich den Bischof an. Waleran war bleich wie der Tod, sein Mund stand offen, die Augen waren vor Schreck geweitet. Tom war bass erstaunt: Wie war es möglich, dass ein einfaches Lied einem solchen Mann derart Angst und Bange machen konnte?
Es graut der Tag, der Jäger kommt,
um ihm den Tod zu geben.
Es stirbt der Vogel, stirbt der Mensch –
mein Lied wird ewig leben.
»Lebt wohl, Waleran Bigod!«, rief Ellen. »Zwar verlasse ich Kingsbridge, doch nicht Euch. Ich werde bei Euch sein, in Euern Träumen!«
In meinen auch, dachte Tom. Einen Moment lang standen alle da wie vom Donner gerührt.
Ellen machte kehrt. Sie hielt Jack an der Hand. Niemand sprach ein Wort, als die beiden durchs Tor schritten und in der Abenddämmerung verschwanden.
Buch II
1136-1137
Kapitel V
Nach Ellens Fortgang war es an Sonntagen im Gästehaus sehr still. Alfred spielte auf der Wiese am anderen Ufer des Flusses mit den Dorfburschen Fußball. Martha, die Jack arg vermisste, spielte Rollenspiele, wobei sie Gemüse sammelte, Brei kochte und eine Puppe an- und auszog. Tom arbeitete an seinem Entwurf für die Kathedrale.
Ein- oder zweimal hatte er Philip darauf angesprochen, ob er ihm nicht seine Vorstellungen von der neuen Kirche etwas genauer auseinandersetzen könne, doch der Prior hatte alle diesbezüglichen Anspielungen bewusst oder unbewusst überhört. Philip war ein viel beschäftigter Mann. Tom hingegen dachte – vor allem an Sonntagen – an kaum etwas anderes als an seinen Plan.
Am liebsten saß er gleich hinter der geöffneten Tür des Gästehauses und betrachtete die Ruine der Kathedrale. Gelegentlich skizzierte er etwas auf einer Schieferplatte; die Hauptarbeit geschah jedoch in seinem Kopf. Tom war es – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen – immer leichtgefallen, sich feststehende Objekte und eine komplizierte Raumaufteilung bildlich vorzustellen.
Er hatte sich Philips Vertrauen und Dankbarkeit durch die fachmännische Organisation der Aufräumarbeiten erworben, galt jedoch beim Prior nach wie vor als einfacher Maurer und Steinmetz, der rastlos von einer Baustelle zur anderen zog. Es lag jetzt an ihm selbst, Philip davon zu überzeugen, dass er auch ein fähiger Architekt und Kathedralenbaumeister war.
An einem Sonntag, annähernd zwei Monate, nachdem Ellen ihn verlassen hatte, war Tom so weit, dass er glaubte, mit dem Grundriss beginnen zu können.
Er flocht sich eine ungefähr drei mal zwei Fuß große Matte aus Schilf und biegsamen Zweigen und umgab sie mit einem sauberen, am Rand hochstehenden Holzrahmen, sodass sie aussah wie ein Tablett. Dann verbrannte er etwas Kreide, mischte sich mit dem erhaltenen Kalk einen starken Mörtel zurecht und füllte damit das »Tablett«. Als der Mörtel zu binden begann, ritzte er mit einer Nadel Striche hinein. Für gerade Linien benutzte er sein eisernes, fußlanges
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