Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
dem Umhang, den sie trug – kein Unterkleid, kein Hemd, weder einen Hut noch Schuhe. Sie wollte für ihren Bruder sorgen – aber wie?
Plötzlich erkannte sie, dass sie in den vergangenen Monaten in einer Scheinwelt gelebt hatte. Irgendwo im Hinterkopf hatte sie gewusst, dass es mit dem gewohnten Leben ein für alle Mal vorbei war, aber sie hatte sich geweigert, der Realität ins Auge zu sehen. William Hamleigh hatte sie wachgerüttelt. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass seine Geschichte der Wahrheit entsprach: König Stephan hatte Percy Hamleigh zum Grafen von Shiring ernannt. Aber vielleicht war das nicht alles. Vielleicht hatte der König Vorsorge für sie und Richard getroffen. Wenn nicht, dann hätte er sie treffen müssen, und sie würden ein Bittgesuch an ihn stellen. Wie dem auch immer sei, sie mussten nach Winchester. Dort konnten sie zumindest herausfinden, was ihrem Vater zugestoßen war.
Plötzlich dachte sie: Oh, Vater, wann nahm das Unglück seinen Lauf?
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte er sich ganz besonders um sie gekümmert. Sie wusste, dass er ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte als andere Väter ihren Töchtern. Es quälte ihn, dass er nicht wieder geheiratet hatte, damit sie eine neue Mutter bekam; aber er hatte ihr erklärt, die Erinnerung an seine verstorbene Frau mache ihn glücklicher, als eine neue Ehe das könne. Und Aliena hatte nie den Wunsch nach einer Ersatzmutter verspürt. Ihr Vater hatte sich um sie gekümmert, sie hatte sich um Richard gekümmert, und keiner von ihnen hatte darunter gelitten.
Diese Zeiten waren unwiederbringlich vorbei.
»Wo wollen wir hin?«, fragte Richard noch einmal.
»Nach Winchester«, antwortete sie. »Wir werden den König aufsuchen.«
Richard war sofort Feuer und Flamme. »Ja! Und wenn wir erst berichten, was William und sein Reitknecht vorige Nacht getan haben, dann wird der König gewiss –«
Heftige, unbändige Wut flammte in Aliena auf.
»Halt den Mund!«, schrie sie. Die Pferde scheuten. Unbeherrscht riss sie an den Zügeln. »Kein einziges Wort darüber!« Sie kochte vor Zorn und brachte die Worte kaum über die Lippen. »Wir werden niemandem davon erzählen – niemandem! Niemals! Nie und nimmer!«
Die Satteltaschen des Reitknechts enthielten ein großes Stück Hartkäse, ein paar Schluck Wein in einer Lederflasche, einen Feuerstein und etwas trockenes Holz sowie ein oder zwei Pfund Mischgetreide, von dem Aliena annahm, es sei für die Pferde bestimmt. Gegen Mittag verzehrten die Geschwister den Käse und tranken den Wein, während die Pferde das spärliche Gras fraßen, an immergrünem Gesträuch knabberten und aus einem klaren Bach tranken. Alienas Blutfluss hatte aufgehört, und ihr Unterleib fühlte sich wie betäubt an.
Unterwegs waren sie anderen Reisenden begegnet, aber Aliena hatte Richard eingeschärft, mit niemandem zu reden. In den Augen eines flüchtigen Beobachters mochten sie wie ein imposantes Paar wirken, besonders Richard mit seinem Schwert auf dem riesigen Pferd; ein kurzer Wortwechsel hätte sie jedoch alsbald als zwei schutzlose Kinder bloßgestellt und sie unter Umständen in Gefahr gebracht. Deswegen machten sie einen großen Bogen um andere Menschen.
Sobald es dunkler wurde, sahen sie sich nach einem geeigneten Rastplatz für die Nacht um. Etwa hundert Meter neben der Straße fanden sie eine Lichtung am Ufer eines Baches.
Aliena verfütterte ein wenig Korn an die Pferde, während Richard Feuer machte. Ohne Kochgeschirr konnte sie noch nicht einmal Getreideschleim für sich kochen. Falls es ihnen nicht gelang, ein paar Esskastanien zum Rösten zu finden, würden sie die Körner roh kauen müssen.
Während Aliena noch darüber nachdachte und Richard außer Sichtweite Feuerholz zusammenklaubte, wurde sie von einer tiefen, aus unmittelbarer Nähe kommenden Stimme aufgeschreckt. »Na, wen haben wir denn da, meine Kleine?«
Sie schrie auf. Das Pferd machte erschrocken einen Satz nach hinten. Aliena drehte sich um und erblickte einen schmutzigen, bärtigen Mann, von Kopf bis Fuß in braunes Leder gekleidet. »Haltet Euch von mir fern!«, kreischte sie.
»Nur keine Angst«, sagte er.
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Richard mit Holz beladen hinter dem Fremden auf die Lichtung trat. Er blieb still stehen und beobachtete sie beide. Zieh dein Schwert! , dachte Aliena, aber er wirkte zu ängstlich und unsicher, um irgendetwas zu unternehmen. Sie trat einen Schritt zurück und brachte das Pferd
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