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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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der sie mit Richard und Matthew allein und ohne Priester auf der Burg gelebt hatte, war ihr jegliches Zeitgefühl abhandengekommen, sodass sie nun nicht hätte sagen können, wann die Fastenzeit tatsächlich begonnen hatte.
    Am Fuß der Treppe, die zum Wohnturm hinaufführte, stand ein bulliger, graubärtiger Wachposten. Aliena machte Anstalten, an ihm vorbeizugehen, wie sie es an der Seite ihres Vaters gewohnt gewesen, doch der Posten versperrte ihr mit gesenkter Lanze den Weg. Sie schaute ihn gebieterisch an und sagte: »Ja?«
    »Und wer bist du, dass du meinst, hier einfach durchspazieren zu können, mein Kind?«, sagte der Wachposten.
    Sinkenden Mutes erkannte Aliena, dass sie es mit jener Sorte Mensch zu tun hatte, die ihre Genugtuung allein daraus zieht, dass sie andere Menschen von ihren Zielen abhalten kann.
    »Wir wollen dem König ein Bittgesuch unterbreiten«, sagte sie kühl. »Lass uns also durch.«
    »Du?«, erwiderte der Posten verächtlich. »Mit Holzschuhen an den Füßen? Selbst meine Frau würde sich damit schämen. Mach, dass du wegkommst.«
    »Geh mir aus dem Weg, Wachmann«, sagte Aliena. »Jeder Bürger hat das Recht, ein Gesuch an den König zu richten.«
    »Doch die ärmeren Ausgaben werden, wenn sie töricht genug sind, davon Gebrauch machen zu wollen, im Allgemeinen –«
    »Wir gehören aber nicht zu den ärmeren Ausgaben!«, fauchte Aliena. »Ich bin die Tochter des Grafen von Shiring, und mein Bruder ist sein Sohn. Lass uns also durch, sonst wirst du den Rest deiner Tage in einem Verlies dahinvegetieren!«
    Der Posten blickte nicht mehr ganz so überheblich drein, sagte aber reichlich glatt: »Du kannst kein Gesuch an den König richten, weil er gar nicht hier ist. Er ist in Westminster. Und wenn du bist, wer du vorgibst zu sein, dann hättest du das selber wissen müssen.«
    Aliena war wie vor den Kopf geschlagen. »Aber wieso ist er denn in Westminster? Er sollte doch über Ostern hier sein!«
    Dem Wachposten dämmerte allmählich, dass sie kein Gossenkind war. »Zu Ostern hält er in Westminster Hof. Sieht so aus, als wolle er sich nicht in allem nach dem alten König richten. Warum sollte er auch?«
    Damit hatte er natürlich recht, aber es war Aliena nie in den Sinn gekommen, dass ein neuer König eine andere Zeiteinteilung haben könnte. Und da sie zu jung war, um sich an den Regierungsantritt von König Heinrich zu erinnern, wurde sie immer ratloser. Sie hatte einen ausgeklügelten Schlachtplan gehabt – und nun hatte er sich als verfehlt herausgestellt! Am liebsten hätte sie die Flinte ins Korn geworfen.
    Sie schüttelte den Kopf, um die unheilvolle Mutlosigkeit zu verscheuchen. Dies war keine Niederlage, nur ein Rückschlag. Das Bittgesuch an den König war nur eine Möglichkeit, die sie für sich und ihren Bruder in Anspruch nehmen konnte. Nach Winchester war sie schließlich noch aus einem weiteren Grund gekommen: Sie wollte herausfinden, was mit ihrem Vater geschehen war; er konnte ihr bestimmt sagen, was sie tun sollte.
    »Wer ist denn dann hier?«, wandte sie sich wieder an den Wachposten. »Es muss doch irgendwelche Bedienstete des Königs hier geben. Ich will ja nur meinen Vater sehen.«
    »Im Schloss oben gibt es einen Schreiber und einen Haushofmeister«, erwiderte der Posten. »Sagtest du, der Graf von Shiring sei dein Vater?«
    »Ja.« Sie hielt den Atem an. »Weißt du etwas über ihn?«
    »Ich weiß, wo er ist.«
    »Wo denn?«
    »Im Gefangenenhaus der Burg.«
    So nahe! »Wie komme ich dorthin?«
    Der Posten deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Den Hügel runter, an der Kapelle vorbei, gegenüber vom Haupttor.« Dass er sie am Betreten des Wohnturms gehindert hatte, genügte ihm offenbar, denn nun gab er bereitwillig Auskunft. »Am besten wendet ihr euch an den Gefangenenaufseher. Er heißt Odo, und er hat tiefe Taschen.«
    Letzteres verstand Aliena nicht, doch sie war zu aufgeregt, um es sich erklären zu lassen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihren Vater an einem unbestimmten, weit entfernten Ort im Verlies geglaubt, und jetzt hieß es plötzlich, er sei hier in dieser Burg! Sie vergaß das Bittgesuch an den König: Sie wollte nur noch zu ihrem Vater. Allein der Gedanke, dass er in der Nähe war und ihr helfen konnte, machte ihr die Gefahren und die Ungewissheit der vorangegangenen Monate doppelt deutlich. Sie wollte sich in seine Arme stürzen und ihn sagen hören: »Jetzt ist alles wieder in Ordnung, jetzt wird alles wieder gut.«
    Der Wohnturm

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