Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
stand etwas erhöht in einer Ecke der Burg. Aliena drehte sich um und betrachtete die ganze Anlage, eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung von Gebäuden aus Stein und Holz, umgeben von hohen Mauern. Den Hügel hinunter, hatte der Wachposten gesagt: an der Kapelle vorbei – sie entdeckte ein gepflegtes kleines Steinhaus, das wie eine Kapelle aussah – und gegenüber vom Haupttor. Der Hauptzugang bestand aus einem Tor in der Außenmauer der Befestigung, sodass der König sie direkt und unter Umgehung der Stadt betreten konnte. Gegenüber dem Eingang, in unmittelbarer Nähe der rückwärtigen Mauer, die die Burg von der Stadt trennte, stand ein kleines Steinhaus, vermutlich das Gefängnis.
Aliena und Richard eilten den Hügel hinunter. Ob es Vater gut geht, überlegte Aliena. Bekommt man im Gefängnis auch ordentlich zu essen? Die Gefangenen ihres Vaters in Earlscastle waren stets mit Suppe und Brot versorgt worden, aber sie hatte gehört, dass Gefangene anderswo manchmal schlecht behandelt wurden. Sie konnte nur hoffen, dass Vater wohlauf war.
Sie überquerten den Burghof mit bangem Herzen. Die Anlage war weitläufig und geradezu übersät mit Gebäuden: Küchen, Ställe, Soldatenquartiere, zwei Kapellen. Nun, da sie wusste, dass der König gar nicht da war, konnte Aliena unschwer die Anzeichen dafür erkennen, die sie auf ihrem Zickzackkurs zum Gefängnis eher beiläufig wahrnahm: Wildernde Hausschweine und Schafe hatten sich von den vor dem Tor gelegenen Siedlungen auf den Burghof verirrt und wühlten in den Abfallhaufen, Bewaffnete lungerten träge herum und fanden ihre einzige Beschäftigung darin, vorübergehenden Frauen zweideutige Bemerkungen nachzurufen, und im Portal einer der Kapellen wurden sogar Glücksspiele gespielt. Aliena störte die allgemeine Nachlässigkeit. Sie zog daraus den Schluss, dass sich niemand so recht um ihren Vater kümmerte, und fing an, das Schlimmste zu befürchten.
Das Gefängnis war ein baufälliges Haus aus Stein, das dereinst einem königlichen Beamten, einem Richter oder Amtmann etwa, gehört haben mochte. Das obere Stockwerk, vormals der Gemeinschaftsraum, jetzt nahezu dachlos, war beinahe völlig ruiniert, lediglich das Erdgeschoss war noch intakt. Das besaß zwar keine Fenster, dafür aber eine große Holztür mit Eisenbeschlägen, die nur angelehnt war. Während Aliena noch unschlüssig verharrte, ging eine hübsche Frau mittleren Alters in einem Umhang aus gutem Tuch an ihr vorbei, öffnete die Tür ganz und ging hinein.
Aliena und Richard folgten ihr.
Im Innern war es düster. Es roch nach abgestandenem Schmutz und Moder. Das Gewölbe, einst ein einziger Lagerraum, war offenbar mit hastig zusammengeschusterten Bruchsteinwänden unterteilt worden. Aus der Tiefe des Gebäudes ließ sich monotones Stöhnen vernehmen – es klang wie der Singsang eines Mönchs, der mutterseelenallein die Litanei eines Gottesdienstes abspult. Gleich hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum, der nichts beherbergte außer einem Tisch und einem Stuhl. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer auf dem nackten Boden. Ein großer, einfältig wirkender Mann, der ein Schwert am Gürtel trug, fegte den Raum, als hätte er es nicht nötig. Er sah auf, begrüßte die Frau mit einem »Guten Morgen, Meg« und ließ sich einen Penny von ihr geben. Die Frau verschwand in der Dunkelheit. Dann nahm er Aliena und Richard wahr. »Was wollt ihr hier?«
»Ich will meinen Vater besuchen«, sagte Aliena. »Den Grafen von Shiring.«
»Er heißt jetzt schlicht und einfach Bartholomäus«, erwiderte der Gefangenenwärter.
»Deine Spitzfindigkeiten kannst du dir an den Hut stecken, Wärter. Wo ist er?«
»Wie viel Geld hast du denn?«
»Ich habe gar keins, deshalb solltest du dir erst gar keine Hoffnung auf ein Schmiergeld machen.«
»Wenn du kein Geld hast, kannst du deinen Vater nicht besuchen.« Stur machte er sich wieder ans Fegen.
Aliena hätte am liebsten losgebrüllt: Nur so wenige Meter, die sie von ihrem Vater trennten, und dieser Kerl ließ sie nicht zu ihm! Der Kerl war nicht nur groß und bullig, sondern auch bewaffnet – sie hatte also nicht die geringste Aussicht, ihn niederzuringen. Geld jedoch hatte sie auch nicht. Schon als sie gesehen hatte, dass die Meg genannte Frau einen Penny zahlte, waren ihr Befürchtungen gekommen – immerhin, hatte sie gedacht, kann es sich dabei auch um die Bezahlung für irgendeine besondere Vergünstigung handeln. Nun war klar, dass sie sich
Weitere Kostenlose Bücher