Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
verurteilt. Das also war ihr bestimmt: Richard sollte Vater rächen, und sie hatte sich um Richard zu kümmern. Auf diese Weise konnte auch sie Vergeltung üben, denn wenn Richard Graf wurde, verlor William Hamleigh sein Erbe. Es kam ihr in den Sinn, dass niemand sie gefragt hatte, wie sie sich ihr Leben vorstellte, aber dieser dumme Einwand verflüchtigte sich ebenso schnell, wie er gekommen war. Dies war ihre Bestimmung, und sie schien ihr nur rechtens. Aliena lehnte sich nicht dagegen auf, aber sie machte sich klar, wie schicksalsträchtig dieser Moment war: Ein Zurück gab es nicht mehr, und ihr Lebensweg wurde unwiderruflich vorherbestimmt. Sie legte ihre Hand auf das Heft und leistete den verlangten Eid. Die Klarheit und Stärke ihrer Stimme überraschte sie selbst. »Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, bei Jesus Christus und allen Heiligen, dass ich für meinen Bruder Richard Sorge tragen werde, bis er sein Gelübde erfüllt hat.« Sie bekreuzigte sich. Es war vollbracht. Ich habe einen Eid geschworen, dachte sie, und lieber will ich sterben als mein Wort zu brechen. Der Gedanke erfüllte sie mit einer Art zorniger Befriedigung.
    »Gut«, sagte Vater, und seine Stimme klang wieder ebenso schwach wie zuvor. »Von nun an braucht ihr nie wieder hierherzukommen.«
    Aliena glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Onkel Simon kann uns ab und zu herbringen, und wir kümmern uns darum, dass du es immer warm und genug zu essen hast …«
    »Nein«, sagte er entschieden. »Ihr habt jetzt eine Aufgabe zu erfüllen. Ihr werdet weder eure Zeit noch eure Kraft auf Besuche im Kerker verschwenden.«
    Sie hörte ihm an, dass er keinen Widerspruch dulden würde, konnte aber nicht anders, als gegen seine harte Entscheidung zu protestieren.
    »Dann lass uns wenigstens einmal noch herkommen, damit wir dir ein paar Erleichterungen verschaffen können!«
    »Ich will keine Erleichterungen.«
    »Bitte …«
    »Kommt nicht in Frage.«
    Sie gab auf. Er pflegte gegen sich selbst mindestens ebenso hart zu sein wie gegen andere. »Wie du willst«, brachte sie schluchzend heraus.
    »Ihr geht am besten wieder«, sagte er.
    »Jetzt schon?«
    »Ja. Hier herrscht nichts als Verzweiflung, Fäulnis und Tod. Nun, da ich weiß, dass es euch gut geht und ihr mir versprochen habt zurückzugewinnen, was uns zusteht, bin ich mit meinem Los zufrieden. Wenn ich jedoch zusehen müsste, wie ihr eure Zeit mit Besuchen hier vertut, wäre mein Glück schnell wieder dahin. Geht jetzt also.«
    »Nein, Papa!«, entgegnete Aliena wider besseres Wissen.
    »Hör zu«, sagte er, und seine Stimme nahm endlich einen weicheren Klang an. »Ich habe ein ehrenhaftes Leben geführt und werde bald sterben. Ich habe meine Sünden bekannt und bin bereit für die Ewigkeit. Betet für meine Seele. Und geht.«
    Aliena neigte sich vor und küsste ihn auf die Stirn. Ihre Tränen benetzten sein Gesicht. »Lebe wohl, liebster Vater«, flüsterte sie und erhob sich.
    Richard beugte sich hinunter und küsste ihn. »Lebe wohl, Vater«, sagte er unsicher.
    »Gott segne euch und helfe euch, euer Gelübde zu erfüllen«, sagte Vater.
    Richard ließ ihm die Kerze da. Aliena drehte sich auf der Schwelle noch einmal um und warf in dem unsteten Licht einen letzten Blick auf ihn. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag der wohlbekannte Ausdruck ruhiger Entschlossenheit. Sie betrachtete ihn, bis ihr Blick von Tränen verschleiert wurde. Dann drehte sie sich um, durchquerte den Vorraum und stolperte ins Freie.
    +++
    Richard musste sie führen, denn Aliena war wie betäubt vor Kummer. Es wollte ihr vorkommen, als wäre Vater schon tot, aber am schlimmsten empfand sie, dass er noch immer zu leiden hatte. Sie hörte, wie Richard sich nach dem Weg erkundigte, achtete aber nicht weiter darauf und fand sich schließlich vor einer kleinen Kirche wieder, an die eine windschiefe Hütte gebaut war. Erst da sah sich Aliena um und stellte fest, dass sie sich in einem Armenviertel mit winzigen, baufälligen Häusern befanden. Die Gassen waren mit Unrat übersät, in dem wilde Köter nach Ratten jagten und die Kinder im Schmutz spielten. »Das muss Sankt Michael sein«, sagte Richard.
    Das Hüttchen neben der Kirche war offenbar das Haus des Priesters. Es hatte nur ein Fenster mit einem Fensterladen davor. Da die Tür offen stand, gingen sie hinein.
    In der Mitte des einzigen Raums brannte ein Feuer. Die Einrichtung bestand aus einem grob gezimmerten Tisch, wenigen Schemeln und einem Bierfass in einer Ecke.

Weitere Kostenlose Bücher