Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
allen Heiligen? Die Stimme einer Toten!«
Aliena verstand gar nichts, doch er lieferte ihr die Erklärung nach. Er trat auf sie zu und musterte sie so durchdringend, wie er ein Pferdegebiss begutachten mochte, und sagte schließlich: »Deine Mutter hatte die gleiche honigsüße Stimme. Und Herrgott noch mal, du bist genauso schön wie sie!« Er streckte die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, aber sie trat eiligst einen Schritt zurück.
»Aber du bist auch genauso halsstarrig wie dein verdammter Vater, das sehe ich gleich. Er war es wohl, der euch hergeschickt hat, oder?«
Alles in Aliena sträubte sich. Es war ihr zuwider, dass er Papa als ihren »verdammten Vater« bezeichnete. Doch Widerspruch von ihrer Seite hätte ihn nur darin bestärkt, sie als halsstarrig zu bezeichnen; also biss sie sich auf die Zunge und antwortete bescheiden: »Ja. Er sagte, Tante Edith werde sich unserer annehmen.«
»Nun, da hat er sich geirrt«, sagte Onkel Simon. »Tante Edith ist tot. Und außerdem habe ich, seit euer Vater in Ungnade gefallen ist, die Hälfte meines Landes an Percy Hamleigh, diesen fetten Schurken, verloren. Hier sind harte Zeiten angebrochen. Ihr könnt also gleich wieder kehrtmachen und nach Winchester zurückgehen. Ich nehme euch jedenfalls nicht auf.«
Aliena war erschüttert. Wie hart er wirkte! »Aber wir sind doch mit dir verwandt!«, sagte sie.
Er besaß Anstand genug, einen Anflug von Scham zu zeigen, doch seine Antwort fiel barsch aus. »Mit mir nicht. Du bist bloß die Nichte meiner ersten Frau, und die ist tot. Selbst als sie noch am Leben war, hat sie ihre Schwester nie besucht, nur wegen dieses aufgeblasenen Esels, den deine Mutter geheiratet hat.«
»Wir werden arbeiten«, bat Aliena. »Wir sind beide bereit …«
»Spar dir deine Worte«, sagte er. »Ich nehme euch nicht auf.«
Aliena war fassungslos: Er klang so endgültig! Es hatte offensichtlich keinen Sinn, sich mit ihm zu streiten oder ihn anzuflehen. Doch mittlerweile hatte sie so viele Enttäuschungen und Rückschläge dieser Art einstecken müssen, dass sie eher Bitterkeit als Niedergeschlagenheit empfand. Noch vor einer Woche wäre sie in einer ähnlichen Situation in Tränen ausgebrochen. Jetzt war ihr eher danach, ihm ins Gesicht zu spucken. »Das vergesse ich dir nicht«, sagte sie. »Das bekommst du zu spüren, wenn Richard erst Graf ist und wir die Burg wiederhaben!«
Er lachte. »Ob ich das noch erlebe?«
Es hatte keinen Sinn, weiter herumzustehen und sich von diesem Menschen demütigen zu lassen. »Komm, wir gehen«, sagte sie zu Richard. »Wir kommen auch allein zurecht.«
Onkel Simon hatte sich bereits abgewandt und widmete sich wieder seinem Pferd mit dem hohen Widerrist. Den Männern in seiner Begleitung war ihre Verlegenheit anzusehen.
Kaum waren die Geschwister außer Hörweite, fragte Richard kläglich: »Was machen wir denn nun, Allie?«
»Wir werden diesen herzlosen Leuten beweisen, dass wir besser sind als sie«, erwiderte sie grimmig. Was sie fühlte, war nicht Mut, sondern Hass, blanker Hass auf Onkel Simon, auf Vater Ralph, auf den Gefängnisaufseher Odo, auf die Banditen, auf den Jagdpfleger – und ganz besonders auf William Hamleigh.
»Nur gut, dass wir wenigstens Geld haben«, meinte Richard.
Das stimmte. Aber das Geld würde nicht ewig reichen.
»Wir können es nicht einfach so ausgeben«, sagte sie, während sie dem Pfad folgten, der zur Hauptstraße zurückführte. »Wenn wir es nur für Essen und solche Sachen ausgeben, dann sind wir, sobald es aufgebraucht ist, genauso arm dran wie zuvor. Wir müssen etwas damit anstellen.«
»Das sehe ich nicht ein«, sagte Richard. »Ich finde, wir sollten ein Pony kaufen.«
Sie starrte ihn an. War das ein Scherz? Doch sie konnte kein Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Er verstand ganz einfach nicht, worum es ging. »Wir haben keine gesellschaftliche Stellung, keinen Titel, kein Land«, erklärte sie geduldig. »Der König wird uns nicht helfen. Als Hilfskräfte können wir uns nicht verdingen – das haben wir in Winchester schon versucht, und niemand wollte uns haben. Wir müssen aber nicht nur das tägliche Brot verdienen, sondern außerdem noch genug, um dich als Ritter auszustaffieren.«
»Ach so«, sagte er. »Jetzt verstehe ich.«
Sie sah ihm an, dass er es nicht wirklich begriff.
»Wir müssen uns in irgendeinem Beruf etablieren, damit wir genug zu essen haben und ausreichend Geld, um dir ein gutes Pferd zu kaufen.«
»Willst du damit
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