Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
einem Priester habe ich ein brennendes Holzscheit vors Gesicht gehalten, drauf und dran, ihm die Augen damit auszubrennen.
»Hat es mit Vater zu tun?«, fragte Richard mitfühlend.
»Nein, nicht mit Vater«, erwiderte Aliena. »Nur mit mir selber.«
Aliena bereute, dass sie die Stiefel nicht gekauft hatte. Auf ihrem Marsch nach Gloucester trug sie die Botten, bis ihr die Füße bluteten, ging dann barfuß weiter, bis sie die Kälte nicht länger ertragen konnte, und schlüpfte schließlich doch wieder in die Holzschuhe. Sie fand heraus, dass es leichter ging, wenn sie gar nicht auf ihre Füße achtete; jedes Mal, wenn sie die wunden Stellen und das Blut sah, empfand sie ihre Schmerzen stärker.
In der hügeligen Gegend, durch die sie kamen, gab es hauptsächlich ärmliche kleine Höfe, auf denen die Bauern nicht mehr als einen Morgen Hafer oder Roggen anbauten und nur wenige magere Tiere hielten. Als Aliena meinte, sie könnten nun nicht mehr allzu weit von Huntleigh entfernt sein, verweilte sie am Rande eines Dorfes und sprach einen Bauern an, der in einem eingezäunten Gehege neben einem niedrigen, aus Akaziengeflecht und Lehm gebauten Bauernhaus ein Schaf schor. Der Kopf des Tieres war in einer blockähnlichen Vorrichtung aus Holz gefangen, und die Wolle wurde mit einem langschneidigen Messer geschnitten. Zwei weitere Schafe harrten unruhig ihrer Schur, und ein viertes, bereits geschorenes Schaf tat sich auf der Weide gütlich und wirkte in der Kälte überaus nackt.
»Ein bisschen früh für die Schafschur«, bemerkte Aliena.
Der Bauer, ein junger Mann mit rotem Haar und Sommersprossen, blickte auf und grinste sie gutmütig an. Seine aufgekrempelten Ärmel entblößten behaarte Arme.
»Schon, aber ich brauche das Geld. Statt selber Hunger zu leiden, lasse ich lieber die Schafe frieren.«
»Wie viel bekommst du für die Wolle?«
»Einen Penny für ein Vlies. Aber dafür muss ich bis nach Gloucester gehen. Das kostet mich einen ganzen Arbeitstag auf dem Feld, ausgerechnet im Frühjahr, wenn es so viel zu tun gibt.« Das kam brummig heraus, schien aber nichts an seiner guten Laune zu ändern.
»Wie heißt dieses Dorf?«, fragte Aliena ihn.
»Die Fremden nennen es Huntleigh«, sagte er. Bauern benutzten niemals den Namen ihres Dorfes – für sie war es einfach das Dorf. Namen bedeuten nur Reisenden etwas. »Wer bist du?«, fragte er mit unverhohlener Neugier. »Was führt dich hierher?«
»Ich bin die Nichte Simons von Huntleigh«, erwiderte Aliena.
»Ach so. Nun, du findest ihn in dem großen Haus. Ein Stück die Straße zurück, dann den Pfad entlang, der zur Rechten durch die Felder führt.«
»Danke.«
Das Dorf lag behaglich inmitten seiner gepflegten Felder wie ein Schwein in seiner Suhle. Ungefähr zwanzig kleinere Behausungen drängten sich um das Herrenhaus, das nicht viel größer war als das eines wohlhabenden Bauern. Tante Edith und Onkel Simon konnten nicht sonderlich betucht sein.
Vor dem Gutshaus standen mehrere Männer bei einem Pferdegespann. Einer von ihnen schien der Lehnsherr zu sein, denn er trug eine scharlachrote Jacke. Aliena betrachtete ihn genauer. Es war zwölf oder dreizehn Jahre her, seit sie ihren Onkel Simon zum letzten Mal gesehen hatte, aber sie glaubte, ihn zu erkennen. Sie hatte ihn als großen Mann in Erinnerung, und er kam ihr jetzt kleiner vor, aber das lag sicher daran, dass sie selbst gewachsen war. Sein Haar begann sich zu lichten, und das Doppelkinn hatte er damals noch nicht gehabt. Dann hörte sie ihn sagen: »Dieses Tier hat einen sehr hohen Widerrist«, und erkannte ihn an der rauen, leicht krächzenden Stimme zuverlässig wieder.
Allmählich wurde ihr wohler zumute. Von nun an werden wir verköstigt und gekleidet, versorgt und beschützt, dachte sie; mit grobem Brot und hartem Käse ist es jetzt ebenso vorbei wie mit den Nächten auf Stroh und langen Märschen mit der Hand am Messer. Hier wartete ein weiches Bett auf sie und ein neues Kleid, und zum Essen gab es gebratenes Fleisch.
Onkel Simon sah auf und in ihre Richtung. Zunächst wusste er nicht, wen er vor sich hatte. »Schaut euch das an«, sagte er zu seinen Männern. »Ein hübsches Mädchen und ein junger Soldat kommen zu Besuch!« Doch dann wurde sein Blick unstet; offenbar dämmerte ihm, dass er es nicht mit wildfremden Menschen zu tun hatte. »Ich kenne euch doch, oder?«, sagte er.
»Ja, Onkel Simon, allerdings«, sagte Aliena.
Er zuckte zusammen, als sei ihm ein Geist erschienen.
»Bei
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