Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Zwischenraum in der Mitte baute. Die Rückseiten der Quader waren im fertigen Bau demnach unsichtbar.
Tom hatte gerade wieder einen Stein auf den Mörtel gelegt. Er griff nach seiner Setzwaage, einem Dreieck aus Eisen, an deren Spitze ein Lederriemchen befestigt war. Ein Bleigewicht sorgte dafür, dass das Riemchen immer gerade hing. Tom setzte das Instrument auf den Stein und prüfte den Fall des Pendels. Je nachdem, wie weit das Gewicht rechts oder links von der Mittelmarkierung abwich, beklopfte er den Stein mit seinem Hammer. Saß der Quader gerade, schob Tom die Setzwaage seitwärts über den Spalt zum angrenzenden Stein und kontrollierte die Höhe. Zum Schluss überprüfte er die Seiten, um zu sehen, ob der Stein nach innen oder nach außen überhing. Bevor er einen neuen Quader zur Hand nahm, zupfte Tom an der straff gespannten Schnur und ließ sie zurückschnappen; er überzeugte sich damit, dass die Vorderseite der Steine eine gerade Linie bildete. Zum ersten Mal ging Philip auf, wie sehr es beim Bau von Steinmauern auf äußerste Präzision ankam.
Er hob den Blick und sah sich auf der Baustelle um. Groß wie sie war, fielen die achtzig Männer und Frauen sowie die paar Kinder kaum ins Gewicht. Und obwohl die Sonne strahlte und alle Beteiligten mit großem Eifer an der Arbeit waren, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass alle Anstrengungen im Grunde sinnlos waren. Er hatte sich mindestens hundert Leute erhofft, sah aber inzwischen ein, dass selbst die nicht ausgereicht hätten.
Wieder kam ein kleiner Trupp durchs Tor. Philip bezwang sich und begrüßte sie mit einem Lächeln. Die Leute brauchten nicht zu wissen, dass ihre Mühe umsonst sein würde. Immerhin würden ihnen ihre Sünden vergeben. Als er auf die Neuankömmlinge zuging, fiel ihm auf, dass die Gruppe größer war, als er zunächst vermutet hatte. Er zählte zwölf Männer, denen noch zwei Nachzügler folgten. Vielleicht bringen wir es bis Mittag, wenn der Bischof kommt, doch noch auf hundert Leute, dachte er und sprach: »Gott segne euch.« Er hatte gerade begonnen, ihnen zu erklären, wo sie zu graben hatten, als er durch einen lauten Ruf unterbrochen wurde.
»Philip!«
Unwillig runzelte er die Stirn. Das war die Stimme von Bruder Milius, auch er hätte Philip in der Öffentlichkeit eigentlich mit ›Vater‹ anreden müssen. Philip sah sich um. Milius balancierte – nicht eben in würdevoller Haltung – auf der Klostermauer herum. Mit ruhiger, aber tragender Stimme rief Philip ihm zu: »Bruder Milius, kommt von der Mauer herunter!«
Milius blieb, wo er war, und rief zurück: »Komm her und schau dir das an!«
Kein gutes Beispiel für klösterliche Disziplin, dachte Philip, noch dazu vor all den Fremden hier. Was ist nur in Milius gefahren? Er benimmt sich doch sonst stets tadellos … »Kommt sofort her und erstattet Bericht, Milius«, erwiderte er in einem Tonfall, wie er ihn gemeinhin nur unruhigen Novizen gegenüber an den Tag legte.
»Das musst du mit eigenen Augen sehen!«, brüllte Milius.
Ich hoffe nur, er hat eine gute Entschuldigung für sein Verhalten, dachte Philip verärgert. Andererseits wollte er seinem engsten Mitarbeiter eine öffentliche Zurechtweisung ersparen. Mit gezwungenem Lächeln, innerlich jedoch vor Ärger schon fast kochend, lief er zur Mauer. Mit einem Satz war er oben. »Was soll dieses Benehmen?«, fauchte er Milius an.
»Sieh doch!«, sagte Milius und deutete in die Ferne.
Philip blickte über die Dächer des Dorfes und jenseits des Flusses auf die Straße, die sich im Westen über die Hügel zog. Dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können: Die Straße, die sich durch die begrünten Felder schlängelte, war voller Menschen, eine einzige, wogende Masse, die sich auf Kingsbridge zu bewegte! »Ist das eine Armee?« Doch dann begriff er, dass die Menschen zu ihm kamen, dass es seine Freiwilligen waren, und sein Herz schlug höher vor Begeisterung.
»Schau nur!«, rief er. »Das müssen fünfhundert sein – tausend – nein, mehr!«
»Stimmt«, sagte Milius überglücklich. »Nun kommen sie doch noch!«
»Wir sind gerettet!« Philip war so aufgeregt, dass sein Zorn auf Milius augenblicklich verflog. Die Straße war bis hin zur Brücke schwarz von Menschen. Die Leute, die er soeben begrüßt hatte, waren nur die Vorhut gewesen. Die Ersten strömten bereits durchs Tor, und auf der Baustelle wimmelte es von Menschen, die darauf warteten, dass man sie anstellte. »Halleluja!«,
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