Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Arkaden im Hauptschiff fortgesetzt. Und die Fenster im Seitenschiff liegen auf der gleichen Höhe wie die Bögen der Arkade. Stärke verbindet sich mit Stärke und Schwäche mit Schwäche.« Alfred hatte nichts begriffen und empfand die Erklärung offensichtlich als Zumutung. Tom seufzte.
Die Gegenwart holte ihn wieder ein, als er Agnes entdeckte, die ihnen entgegenkam. Zwar war ihr Gesicht durch die Kapuze verhüllt, doch erkannte er sie an ihrem selbstsicheren, zielstrebigen Gang. Sogar breitschultrige Arbeiter traten zur Seite, um ihr Platz zu machen. Wenn Agnes der Dieb über den Weg läuft und es kommt zum Kampf, dachte Tom, dann kann er sich auf einiges gefasst machen.
»Habt ihr ihn gesehen?«, fragte Agnes.
»Nein. Und ihr auch nicht, wie’s scheint.« Man konnte nur hoffen, dass der Dieb die Stadt nicht schon verlassen hatte. Es war indes kaum anzunehmen, dass er sich aus dem Staub machte, ohne wenigstens ein paar von seinen Pennys auszugeben. Im Wald ließ sich mit Geld nichts anfangen.
Agnes dachte nicht anders darüber. »Er muss hier irgendwo sein. Suchen wir weiter!«
»Wir durchstreifen jetzt andere Straßen und treffen uns am Marktplatz wieder.«
Tom und Alfred machten kehrt und verließen den Kirchplatz durch das Tor. Der Regen durchweichte ihre Umhänge, und Tom fühlte sich vorübergehend verlockt, in einer Schenke vor dem Feuer Platz zu nehmen und sich einen Krug Bier und eine Rinderbrühe zu gönnen. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie hart er für das Schwein hatte arbeiten müssen, und er sah den Mann ohne Lippen vor sich, der mit der Keule auf Marthas unschuldiges Köpfchen einschlug. Die Wut auf den Kerl brachte sein Blut in Wallung und wärmte ihn.
Eine systematische Suche ließ sich kaum bewerkstelligen, denn die Gassen der Stadt folgten keiner bestimmten Ordnung. Sie führten mal hierhin, mal dorthin – je nachdem, wo die Häuser und Hütten standen, und es gab zahlreiche scharfe Biegungen und Sackgassen. Die Straße, die vom Osttor zur Zugbrücke der Burg führte, war die einzige in der Stadt, die durchgehend gerade angelegt war.
Auf dem Herweg hatten sich Tom und Alfred an die äußeren Befestigungswälle der Burg gehalten. Jetzt liefen sie kreuz und quer durch die Vorstadt und machten immer erst kehrt, wenn sie die Stadtmauer erreichten. Es war eine armselige Gegend, mit den baufälligsten Hütten, den lautesten Schenken und den ältesten Huren. Unterhalb des Stadtkerns gelegen, wurde dieses Viertel vom Unrat aus den wohlhabenderen Bezirken geradezu überschwemmt; er staute sich am Fuß der Mauer. Auch den Menschen, die hier hausten, schien es ähnlich ergangen zu sein, sah man doch weit mehr Krüppel, Bettler, hungrige Kinder, geschlagene Frauen und hilflose Säufer als in anderen Teilen der Stadt.
Nur der Kerl ohne Lippen war nirgends zu finden.
Zweimal entdeckte Tom einen Mann mit vergleichbarem Körperbau und ähnlicher Gestalt, stellte aber jedes Mal bei näherem Hinsehen fest, dass das Gesicht nicht verunstaltet war.
Die Suche endete am Marktplatz, wo Agnes schon ungeduldig auf sie wartete. Ihre Augen funkelten. »Ich habe ihn gefunden«, raunte sie.
In Toms Erregung mischte sich eine beklemmende Vorahnung. »Wo?«
»Vor einer Garküche am Osttor. Er ging gerade hinein.«
»Führ mich hin.«
Sie umrundeten die Burg bis zur Zugbrücke, erreichten über die Hauptstraße das Osttor und tauchten ein in das Gewirr der von der Stadtmauer überragten Sträßchen und Gässchen. Gleich darauf hatte Tom die Garküche auch schon erspäht. Es war nicht einmal ein richtiges Haus, lediglich ein schräges Dach auf vier Pfosten, dessen Rückwand die Stadtmauer bildete. Im Hintergrund brannte ein gewaltiges Feuer, über dem ein großer Kessel bullerte und ein Hammel an einem Spieß gebraten wurde. Es war Mittagszeit und der Stand voller Menschen, überwiegend Männer. Der Geruch des gebratenen Fleisches stieg Tom in die Nase und ließ seinen Magen knurren.
Angestrengt spähte er in die Menge. Er fürchtete, der Dieb könne sich in der Zwischenzeit wieder aus dem Staub gemacht haben. Aber er entdeckte ihn sofort: Der Mann saß ein wenig abseits auf einem Hocker und löffelte Eintopf aus einer Schüssel. Er hielt sich den Schal vors Gesicht.
Tom wandte sich rasch ab, um nicht selbst erkannt zu werden. Er musste sich jetzt überlegen, wie er vorgehen wollte.
Aufgebracht wie er war, hätte er den Halunken am liebsten ohne viel Federlesens niedergeschlagen und ihm seine Geldkatze
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